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Goethes christliches Heidentum und Hegels philosophisches Christentum

Publié le 22/02/2012

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Goethes Äußerungen über Christus und Christentum bewegen sich zwichen einem auffallenden Für und Wider, das aber keinem unklaren Schwanken entspringt, sondern einer herausfordernden Ironie, die sich dem Entweder - Oder entzieht. »Mir bleibt Christus immer ein höchst be- 34 deutendes, aber problematisches Wesen« 32 - eine Bemerkung, die im Munde eines jeden andern der Ausdruck einer trivialen Bildung wäre, während sie bei Goethe eine ganze Welt von gegensätzlichen Denkweisen umfaßt, die seine außerordentliche Mäßigkeit im Gleichgewicht hielt. Goethe bezeichnet sich einmal als einen »dezidierten Nicht-Christen«, dem die Entdeckung der Bewegung der Erde um die Sonne wichtiger sei als die ganze Bibel, und ein andermal als den vielleicht einzigen wirklichen Christen, wie Christus ihn haben wollte53 - ein Widerspruch, dem (im gleichen Gespräch) die Bemerkung zur Seite steht: die griechische Knabenliebe sei so alt wie die Menschheit, sie liege in der Natur des Menschen, obgleich sie gegen die Natur sei, und: die Heiligkeit der christlichen Ehe sei von unschätzbarem Wert, obgleich die Ehe eigentlich unnatürlich sei! Die gespannte Zweideutigkeit von Goethes Äußerungen über das Christentum bewährt sich durch 60 Jahre hindurch. Schon das Prometheusfragment von 1773 ist nicht nur ein Aufstand gegen die Götter, sondern - wie Jacobi und Lessing sogleich verstanden54 - ein Angriff auf den christlichen Gottesglauben, dem 1774 im »Ewigen Juden « ein solcher auf Kirche und Pfaffen folgt. Ein Jahr später antwortet Goethe an Herder auf dessen »Erläuterungen zum Neuen Testament«, er danke ihm für diesen »belebten Kehrichthaufen«, und wenn nur die ganze Lehre von Christo nicht so ein Scheinbild wäre, das ihn als Mensch rasend mache, so wäre ihm auch der Gegenstand und nicht nur Herders Behandlung desselben lieb. Als er 1781 Lavaters gedruckte Briefe erhält, schreibt er: »Selbst Deinen Christus habe ich noch niemals so gern als in diesen Briefen angesehen und bewundert. « Es erhebe die Seele und gebe zu den schönsten Betrachtungen Anlaß, wenn man Lavater dieses »kristallhelle Gefäß« mit Inbrunst fassen und mit seinem eigenen hochroten Trank bis an den Rand füllen und wieder schlürfen sehe. »Ich gönne Dir gern dieses Glück, denn Du müßtest ohne dasselbe elend werden. Bei dem Wunsch und der Begierde, in einem Individuo alles zu genießen, und bei der Unmöglichkeit, daß Dir ein Individuum genug tun kann, ist es herrlich, daß aus alten Zeiten uns ein Bild übrig blieb, in das Du Dein Alles übertragen, und, in ihm Dich bespiegelnd, Dich selbst anbeten kannst; nur das kann ich nicht anders als ungerecht und einen Raub nennen, der sich für Deine gute Sache nicht ziemt, daß Du alle köstliche Federn, der tausendfachen Geflügel unter dem Himmel, ihnen, als wären sie usurpiert, ausraufst, um Deinen Paradiesvogel ausschließlich damit zu schmücken, dieses ist, was uns notwendig verdrießen und unleid- 35 lich scheinen muß, die wir uns einer jeden, durch Menschen und dem Menschen offenbarten Weisheit zu Schülern hingeben, und als Söhne Gottes ihn in uns selbst, und allen seinen Kindern anbeten. Ich weiß wohl, daß Du Dich dadrinne nicht verändern kannst, und daß Du vor Dir recht behältst, doch find ich es auch nötig, da Du Deinen Glauben und Lehre wiederholend predigst, Dir auch den unsrigen als einen ehernen, bestehenden Fels der Menschheit wiederholt zu zeigen, den Du, und eine ganze Christenheit, mit den Wogen Eures Meeres vielleicht einmal übersprudeln, aber weder überströmen, noch in seinen Tiefen erschüttern könnt.« Schärfer schreibt er 1788 an Herder: »Es bleibt wahr: das Märchen von Christus ist Ursache, daß die Welt noch I0m stehen kann und niemand recht zu Verstand kommt, weil es ebensoviel Kraft des Wissens, des Verstandes, des Begriffes braucht, um es zu verteidigen als es zu bestreiten. Nun gehen die Generationen durcheinander, das Individuum ist ein armes Ding, es erkläre sich für welche Partei es wolle, das Ganze ist nie Ganzes, und so schwankt das Menschengeschlecht in einer Lumperei hin und wieder, das alles nichts zu sagen hätte, wenn es nur nicht auf Punkte, die dem Menschen so wesentlich sind, so großen Einfluß hätte.« Etwa sechs Jahre später äußert Goethe in einem Gespräch, er habe beim erneuten Studium Homers erst ganz empfunden, welch unnennbares Unheil der »jüdische Praß« uns zugefügt habe. »Hätten wir die orientalischen Grillen nie kennen gelernt und wäre Homer unsere Bibel geblieben, welch eine ganz andere Gestalt würde die Menschheit dadurch gewonnen haben!« Ebenso heißt es noch dreißig Jahre später in einem Brief an Zelter gelegentlich einer Passionsmusik: »Möge der >Tod Jesu< Dir auch diesmal ein frohes Osterfest bereitet haben; die Pfaffen haben aus diesem jammervollsten aller Ereignisse soviel Vorteil zu ziehen gewußt, die Maler haben auch damit gewuchert, warum sollte der Tonkünstler ganz allein leer ausgehen?« Vier Jahre später schreibt er an Müller, er bedaure die Kanzelredner, welche reden müssen und nichts zu sagen haben, weil sie eine »seit zweitausend Jahren durchgedroschene Garbe« zum Gegenstand haben. Aus derselben Epoche stammt die Bemerkung zu Zelter über ein Ecce-Homo-Bild: »Jeder, der es anblickt, wird sich wohlfühlen, da er jemand vor sich sieht, dem es noch schlechter geht als ihm.« Und als man ihm einmal vorwarf, ein Heide zu sein, erwiderte er: »Ich heidnisch? Nun, ich habe doch Gretchen hinrichten und Ottilie verhungern lassen; ist denn das den Leuten nicht christlich genug?« 55 Derselbe Goethe hat aber auch in der Geschichte der Farbenlehre, un- 36 ter der Überschrift »Überliefertes«, die Bibel als das Buch - nicht nur des jüdischen Volkes, sondern der Völker bezeichnet, weil es die Schicksale dieses einen Volkes zum Symbol aller übrigen aufstelle. »Und was den Inhalt betrifft, so wäre nur wenig hinzuzufügen, um ihn bis auf den heutigen Tag durchaus vollständig zu machen. Wenn man dem Alten Testament einen Auszug aus Josephus beifügte, um die jüdische Geschichte bis zur Zerstörung Jerusalems fortzuführen; wenn man, nach der Apostelgeschichte, eine gedrängte Darstellung der Ausbreitung des Christentums und der Zerstreuung des Judentums durch die Welt... einschaltete; wenn man vor der Offenbarung Johannis die reine christliche Lehre im Sinn des Neuen Testamentes zusammengefaßt aufstellte, um die verworrene Lehrart der Episteln zu entwirren und aufzuhellen: so verdiente dieses Werk gleich gegenwärtig wieder in seinen alten Rang einzutreten, nicht nur als allgemeines Buch, sondern auch als allgemeine Bibliothek der Völker zu gelten, und es würde gewiß, je höher die Jahrhunderte an Bildung steigen, immer mehr zum Teil als Fundament, zum Teil als Werkzeug der Erziehung, freilich nicht von naseweisen, sondern von wahrhaft weisen Menschen genutzt werden können.« Und schließlich hat Goethe in den Wanderjahren (II/1) das Christentum als die »letzte« Religion erklärt, weil sie ein Letztes und Höchstes sei, wozu die Menschheit gelangen konnte und mußte; erst das Christentum habe uns »die göttliche Tiefe des Leidens« erschlossen. Die nähere Begründung davon ist aber keineswegs christlich und sehr nahe an dem, was Nietzsche unter einer dionysischen Rechtfertigung des Lebens verstand. Das Christentum gehe nämlich über die antike Heiligung des Lebens hinaus, weil es auch noch das scheinbar Lebenswidrige positiv in sich aufnehme. Es lehre uns auch das Widerwärtige, Verhaßte und Fliehenswerte: »Niedrigkeit und Armut, Spott und Verachtung, Schmach und Elend, Leiden und Tod« als göttlich anzuerkennen und sogar Sünde und Verbrechen als Fördernisse zu lieben. Es ist gleich der Natur im »Satyros« »Urding« und »Unding« zugleich, eine umfassende Einheit des sich Widersprechenden. Das Leben, heißt es in dem Fragment über die Natur, ist »ihre schönste Erfindung « und der Tod »ihr Kunstgriff, viel Leben zu haben«; Geburt und Grab sind ein ewiges Meer. Von diesem Gott-Naturbegriff aus deutet sich Goethe auch die Echtheit der Bibel und ihre Wahrheit. Nicht minder wahr und belebend wie die Erscheinung von Christus gilt ihm aber die Sonne! »Was ist echt, als das ganz Vortreffliche, das mit der reinsten Natur und Ver- 37 nunft in Harmonie steht und noch heute unserer höchsten Entwicklung dient! Und was ist unecht, als das Absurde, Hohle und Dumme, was keine Frucht bringt, wenigstens keine gute! Sollte die Echtheit einer biblischen Schrift durch die Frage entschieden werden, ob uns durchaus Wahres überliefert worden, so könnte man sogar in einigen Punkten die Echtheit der Evangelien bezweifeln... Dennoch halte ich die Evangelien alle vier für durchaus echt, denn es ist in ihnen der Abglanz einer Hoheit wirksam, die von der Person Christi ausging und die so göttlicher Art, wie nur je auf Erden das Göttliche erschienen ist. Fragt man mich, ob es in meiner Natur sei, ihm anbetende Ehrfurcht zu erweisen, so sage ich: Durchaus! Ich beuge mich vor ihm als der göttlichen Offenbarung des höchsten Prinzips der Sittlichkeit. Fragt man mich, ob es in meiner Natur sei, die Sonne zu verehren, so sage ich abermals: Durchaus! Denn sie ist gleichfalls eine Offenbarung des Höchsten, und zwar die mächtigste, die uns Erdenkindern wahrzunehmen vergönnt ist. Ich anbete in ihr das Licht und die zeugende Kraft Gottes, wodurch allein wir leben, weben und sind, und alle Pflanzen und Tiere mit uns.« 56 So konnte sich Goethe als einen entschiedenen Nicht-Christen bezeichnen und doch zugleich dagegen verwahren, als Heide genommen zu werden. Was er als göttlich verehrte, war die Produktionskraft im Ganzen der Welt, durch die Krieg, Pest, Wasser und Brand ihr nichts anzuhaben vermögen.57 Zu dieser dionysischen Welt des sich selbst Zerstörens und Wiedergebärens gehört auch Christus, dessen Lehre den Bereich des Verehrenswerten bis auf das Fliehenswerte ausgedehnt hat. Es klingt wie eine seltsame Vorwegnahme von Nietzsches Idee eines gekreuzigten Dionysos, wenn Goethe im letzten Monat seines Lebens bei Gelegenheit der Bacchen des Euripides äußert: das Stück gäbe die fruchtbarste Vergleichung einer modernen dramatischen Darstellbarkeit der leidenden Gottheit in Christus mit der antiken eines ähnlichen Leidens, um daraus desto mächtiger hervorzugehen in Dionysos.58 Die innere Folgerichtigkeit dieser Äußerung läßt sich daran ermessen, daß schon im »Ewigen Juden« ein »Sturm und Drang« Christus, welcher es satt hat, so viele Kreuze zu sehen, die unchristlichen Worte spricht: »O Welt voll wunderbarer Wirrung, voll Geist der Ordnung, träger Irrung, du Kettenring von Wonn' und Wehe, du Mutter, die mich selbst zum Grab gebar! Die ich, obgleich ich bei der Schöpfung war, im Ganzen doch nicht sonderlich verstehe.« Goethes freie und lässige Stellung zum Christentum, welche darauf 38 beruht, daß er so »richtig gefühlt« hat,59 ist verflacht und verblaßt zu einem Gemeinplatz der Gebildeten des 19. Jahrhunderts geworden, welche meinten, sich auf Goethe berufen zu können, weil sie ihr Mitteltnaß schon für Mitte und Maß hielten. Ein charakteristischer Ausdruck für das juste milieu dieser bürgerlich-christlichen Bildungswelt war, noch während des ersten Weltkriegs, die beliebte Formel von »Homer und die Bibel«, die man beide im Tornister haben müsse. Dieser christlich gefärbte Humanismus hat noch bis vor wenigen Jahren die mehr oder minder frei-religiösen Reden protestantischer Schuldirektoren und Pastoren gestempelt. Man sprach über irgendeinen biblischen Text und erläuterte ihn mit Aussprüchen von Humboldt, Schiller und Goethe. Overbeck hat diese Sachlage treffend gekennzeichnet: »Es ist eine Manier des heutigen Christentums, in seiner Art sich der Welt zu geben..., wenn sich in der modernen Welt kein bedeutender Mensch als Antichrist mehr gebärden kann, ohne mit Vorliebe für das Christentum angerufen zu werden. Das müssen sich unter den Christen moderner Observanz Goethe und Schiller, Feuerbach, Schopenhauer, Wagner, Nietzsche und jedenfalls noch ihre Nachfahren gefallen lassen ... Wir sind in der Tat mit dem Christentum bald so weit, daß uns alle jene großen Herren als fromme Christen viel vertrauter erscheinen, denn als Abtrünnige des Christentums. Und käme es zum Erweise einer solchen Auffassung ihrer Person auf weiter nichts an als darauf, die Rosinen der >warmen< Töne der Anerkennung für das Christentum aus ihren Schriften herauszupicken, wer möchte sich noch lange bedenken, sich mit Begeisterung zum modernen Christentum zu bekennen!« 60 Hegel hat sein »Begreifen« des Christentums niemals als Negation verstanden, sondern als eine Rechtfertigung des geistigen Gehaltes der absoluten Religion. Die christliche Lehre vom Leiden und von der Erlösung war ihm maßgebend auch für die Spekulation. Vergeblich würde man in seinen Werken und Briefen nach ironischen Ausfällen gegen das Christentum suchen, und wo er polemisiert, geschieht es nur gegen ungehörige Weisen einer begriffslosen Vorstellung durch bestimmte theologische Richtungen. Besonders im Alter hat er ausdrücklich die Christlichkeit seiner Philosophie in Anspruch genommen.61 Mit Recht konnte sein Biograph die Hegeische Philosophie als ein »perennierendes Definieren Gottes« bezeichnen, so sehr war sie eine Philosophie auf dem historischen Boden der christlichen Religion. So eindeutig für Hegel selber seine Vermittlung von Philosophie und Christentum war, so zweideutig mußte sie werden, als eben diese Ver- 39 mittlung zum Angriffspunkt wurde. Das Moment der Kritik, das schon in Hegels Rechtfertigung lag, wurde selbständig und frei, als der Vermittlungscharakter zerfiel. Und weil die Zweideutigkeit, die in Hegels begrifflicher »Aufhebung« der religiösen Vorstellung lag, nach zwei Seiten hin deutbar war, konnte es kommen, daß gerade von seiner Rechtfertigung die Kritik ihren Ausgang nahm. Sie hat auf Grund von Hegels Vermittlung der Philosophie mit dem Christentum auf ihre Unterscheidung und eine Entscheidung gedrängt. Die Konsequenz dieses Vorgehens stellt sich dar in der Religionskritik, welche von Strauß über Feuerbach zu Bruno Bauer und Kierkegaard führt.62 Auf diesem Weg enthüllt sich mit der Krise der Hegeischen Philosophie eine solche des Christentums. Hegel hat eine eigentliche Krisis in der Geschichte des Christentums nicht kommen sehen, während sie Goethe um 1830 schon klar vor sich sah. Denn entweder müsse man den Glauben an die Tradition festhalten, ohne sich auf ihre Kritik einzulassen, oder sich der Kritik ergeben und damit den Glauben aufgeben. Ein Drittes sei undenkbar. »Die Menschheit steckt jetzt in einer religiösen Krisis; wie sie durchkommen will, weiß ich nicht, aber sie muß und wird durchkommen.« 63 Die politische Krisis haben beide in gleicher Weise empfunden. Den äußeren Anstoß gab die Julirevolution.

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