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S. Kierkegaard (en allemandd)

Publié le 22/02/2012

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S. Kierkegaard (1813-1855) Wenn man Kierkegaard nicht bloß als »Ausnahme« nimmt, sondern als eine hervorragende Erscheinung innerhalb der geschichtlichen Be- 126 wegung der Zeit, dann zeigt sich, daß seine »Einzelheit« gar nicht vereinzelt war, sondern eine vielfach verbreitete Reaktion auf den damaligen Zustand der Welt. Als Zeitgenosse von Bauer und Stirner, von Marx und Feuerbach war er vor allem ein Kritiker des Geschehens der Zeit und sein »Entweder-Oder« in Sachen des Christentums war zugleich durch die sozial-politische Bewegung bestimmt. »In diesen Zeiten ist alles Politik«, beginnt das Vorwort zu den zwei Bemerkungen über den »Einzelnen« (1847), um damit zu schließen, daß, was die Zeit fordere, nämlich soziale Reformen, das Gegenteil sei von dem, was ihr not tue, nämlich etwas unbedingt Feststehendes. Das Unglück der Gegenwart sei, daß sie zur bloßen »Zeit« geworden ist, die nichts mehr von der Ewigkeit wissen will. In der Schrift von 1851, die Kierkegaard der Gegenwart »zur Selbstprüfung« empfahl, heißt es in der Rede über die Ausgießung des Heiligen Geistes, man werde heutzutage kaum jemand finden, der nicht an den »Geist der Zeit« glaubt, mag er im übrigen auch noch so beglückt in seiner Mittelmäßigkeit sein und im Banne erbärmlicher Rücksichten stehen. »Auch er glaubt, und zwar steif und fest, an den Zeitgeist.« Der Geist der Zeit gilt ihm als etwas Höheres als er selbst, obschon er doch nicht höher sein kann als die Zeit, über der er gleich einem Sumpfnebel schwebt. Oder man glaubt an den »Weltgeist« und »Menschengeist« des ganzen Geschlechts, um wenigstens auf diese Weise noch an das Geistige glauben zu können. Doch niemand glaubt an den Heiligen Geist, bei dem man sich etwas Bestimmtes denken müßte; von ihm aus gesehen sind aber all jene Geister das Böse. Lose, wie man in einer Zeit der Auflösung ist, hält man sich lieber an das Luftige, welches der Zeitgeist ist, um sich mit gutem Gewissen jedem Lüftchen der Zeit beugen zu können. 309 Indem sich Kierkegaard als ein »Korrektiv gegen die Zeit« verstand, hat er sich selbst geschichtlich verstanden und seine Aufgabe am Charakter der Zeit orientiert. Die Einzelheit der sich selbst - für oder gegen das Christentum - entscheidenden Existenz hat einen genauen Bezug zur Allgemeinheit des anonymen und öffentlichen Geschehens der Welt. Der Einzelne sollte kenntlich machen, »daß der Verfasser .. . es verstanden hatte, mit einem einzigen Wort absolut entscheidend auszudrücken,... daß er seine Zeit und sich in ihr verstanden hatte«, daß er begriffen hatte, daß es eine »Zeit der Auflösung« war, wie Kierkegaard doppelt unterstreicht.310 Es ist ein bewußter Bezug auf die »Entwicklung der Welt«, nämlich zur Einebnung aller maßgebenden Unterschiede, der Kierkegaard zur Hervorhebung des verein- 127 zelten Einzelnen führte, während derselbe Zustand der Zeit bei Bauer die kritische Position des »Selbstseins«, bei Stirner die nihilistische des »Einzigen« und bei Marx die sozialistische des »Gattungswesens« hervortrieb. Aus dieser Stellung zur eigenen Zeit und zur Zeitlichkeit überhaupt ist auch Kierkegaards Verhältnis zu Hegels Philosophie bestimmt. Sie gilt ihm als repräsentativ für die Nivellierung der einzelnen Existenz im Allgemeinen der geschichtlichen Welt, für die »Zerstreutheit« des Menschen im »Weltprozeß«. Desgleichen richtet sich sein Angriff auf Hegels »System« nicht nur gegen die systematische Philosophie, sondern gegen das System der ganzen bestehenden Welt, als deren letzte Weisheit ihm Hegels Philosophie der Geschichte galt. Seine Hegel- und Zeitkritik setzt ein mit dem Begriff der Ironie (1841),311 deren »absolute Negativität« er, gegen Hegels systematische und weltgeschichtliche Auslegung, als die Wahrheit der Subjektivität aufstellt. In den Philosophischen Brocken wird dann ausdrücklich Hegels »System des Daseins« negiert, denn vom Dasein könnte es ein System nur geben, wenn man davon abstrahiert, daß es zu seinem Wesen gehört, als je einzelnes ehtisch zu existieren. In dieser Differenz zum System der Welt liegt die Wahrheit der eigenen Existenz, für welche die Weltgeschichte nur das Beiläufige und Zufällige ist. Hegels spekulative Betrachtung hat aber das 19. Jahrhundert für diesen Ernst des Existierens verdorben. »Daher ist vielleicht unsere Zeit, wenn sie handeln soll, mißvergnügt, weil sie durch das Betrachten verwöhnt ist;. .. daher... die vielen unfruchtbaren Versuche, dadurch etwas mehr, als man ist, zu werden, daß man sich sozial zusammentut, in der Hoffnung, dem Geist der Geschichte zu imponieren. Durch den fortwährenden Umgang mit dem Weltgeschichtlichen verwöhnt, will man einzig und allein das Bedeutsame, bekümmert man sich allein um das Zufällige, den weltgeschichtlichen Ausfall, anstatt um das Wesentliche, das Innerste, die Freiheit, das Ethische.« 312 Im Verhältnis zur ethischen Existenz ist die »quantitative Dialektik« der Weltgeschichte eine bloße Staffage. Der Hegelianer will sich aber nicht mit der Subjektivität des Existierens begnügen, er erblickt mit einer Art großartiger Selbstvergessenheit in jedem Zeitalter eine sittliche Substanz und eine Idee, als wäre das eigene Dasein eine metaphysische Spekulation und das Individuum die Generation. Er überschaut ganze Wälder, indem er über die einzelnen Bäume hinwegsieht.313 In der natürlichen Welt verhält sich das einzelne Individuum unmittelbar zur Gattung; wer eine Schafrasse veredelt, verändert damit 128 auch alle einzelnen Exemplare der Gattung. Wenn aber das Individuum ein geistig bestimmter Mensch ist, wäre es töricht zu meinen, daß etwa christliche Eltern schon ohne weiteres christliche Kinder erzeugen. Geistesentwicklung ist Selbstwirksamkeit, und es genügt daher nicht, im 19. Jahrhundert geboren zu sein, denn man kann nicht mit Hilfe der Generation und der Zeit en masse zu sich selbst kommen. »Je mehr die Generationsidee, sogar im gewöhnlichen Denken, die Oberhand gewonnen hat, desto schrecklicher ist der Übergang: anstatt mit im Geschlecht zu sein und zu sagen: »wir, unsere Zeit, das neunzehnte Jahrhundert«, ein einzelner existierender Mensch zu werden. Ich leugne nicht, daß dies äußerst schwierig sei, darum gehört große Resignation dazu, es nicht zu verschmähen. Was ist doch ein einzelner existierender Mensch? — Ja, unsere Zeit weiß nur allzu gut, wie wenig er ist, aber darin liegt eben die besondere Unsittlichkeit des Zeitalters. Jedes Zeitalter hat ihre, die unserer Zeit besteht vielleicht nicht in Vergnügen und Genuß ..., wohl aber in einer ... ausschweifenden Verachtung der einzelnen Menschen. Mitten in allen Jubel über unsere Zeit und das neunzehnte Jahrhundert klingt der Ton einer heimlichen Verachtung des Menschseins hinein: mitten in der Wichtigkeit der Generation herrscht eine Verzweiflung über das Menschsein. Alles, alles will mit dabei sein, man will sich weltgeschichtlich in dem Totalen betrügen, keiner will ein einzelner, existierender Mensch sein. Daher vielleicht auch die vielen Versuche, an Hegel festzuhalten, selbst von Leuten, die das Mißliche an seiner Philosophie gesehen haben. Man fürchtet, wenn man ein einzelner existierender Mensch wird, spurlos zu verschwinden, so daß nicht einmal Tagesblätter..., geschweige denn weltgeschichtliche Spekulanten einen Blick auf einen werfen. ... Und es ist unleugbar: wenn man keine ethische und religiöse Begeisterung hat, so muß man darüber, daß man ein einzelner Mensch ist, verzweifeln — sonst nicht.« 314 Der scheinbare Mut der Generation verdeckt die wirkliche Feigheit der Individuen, die nur noch in großen Betrieben zu leben wagen, um etwas zu sein. Man verwechselt sich mit der Zeit, dem Jahrhundert, der Generation, mit dem Publikum, der Menge der Menschheit. Indem Hegel den Einzelnen ausläßt, ist auch seine Rede vom fortschreitenden »Werden« ein Schein. In Wahrheit versteht er die Weltgeschichte als Abschluß des schon gewordenen Seins und unter Ausschluß eines wirklichen Werdens, zu dem Tat und Entscheidung gehören. 315 Ebenso belanglos wie Hegels Erinnerung des Gewesenen ist für die einzelne Existenz aber auch die Prophetie seiner Schüler über 129 den möglichen Fortgang der Welt. Sie kann im Ernst nicht mehr bedeuten als eine Unterhaltung wie Kegelschieben und Kartenspielen, sagt Kierkegaard am Ende seiner Kritik der Zeit. Seine Zeit vor eine Entscheidung stellen konnte er aber doch nur, weil auch er an ihrem Geschehen, wenngleich negativ, teilnahm. Die Art seiner vereinzelten Anteilnahme spricht er selbst in dem Bilde aus: seine Zeit komme ihm vor wie ein dahinfahrendes Schiff, auf dem er sich gemeinsam mit den andern Passagieren befinde, aber so, daß er eine Kajüte für sich habe. Die bürgerliche Wirklichkeit dieses Fürsichseins war eine isolierte Privatexistenz, die ihn aber nicht hinderte, das öffentliche Geschehen der Welt zu verfolgen. Er übersah am kleinen Dänemark wie an einem »vollständigen Präparat « den Zerfall der europäischen »Konstitution« und dem gegenüber hielt er den »Einzelnen« — der »just auch« das Prinzip des Christentums sei - für die alleinige Rettung der Zeit. Beides, die Entwicklung der Welt zur Nivellierung und die christliche Forderung, vor Gott als Selbst zu existieren, schien ihm wie ein glücklicher Zufall zusammenzutreffen. »Alles paßt ganz in meine Theorie (nämlich vom Einzelnen) und man soll noch zu sehen bekommen, wie gerade ich die Zeit verstanden habe«, notiert Kierkegaard mit dem Stolz der Ausnahme, die sich gerade als solche auch auf das Allgemeine versteht.316 Er signalisierte die »Katastrophe« von 1848 und glaubte voraussagen zu können, daß, umgekehrt zur Reformation, diesmal die politische Bewegung in eine religiöse umschlagen werde. Denn ganz Europa habe sich mit steigernder Leidenschaftsgeschwindigkeit in Probleme verirrt, die sich im Medium der Welt nicht beantworten lassen, sondern nur vor der Ewigkeit. Wie lange Zeit noch auf das bloß Konvulsivische darauf gehen wird, könne man freilich nicht wissen, gewiß sei aber, daß die Ewigkeit wieder in Betracht kommen wird, wenn das Geschlecht durch Leiden und Blutverlust völlig ermattet sein wird. »Es wird, um die Ewigkeit wieder zu bekommen, Blut gefordert werden, aber Blut von einer anderen Art, nicht jenes der tausendweis totgeschlagenen Schlachtopfer, nein, das kostbare Blut der Einzelnen — der Märtyrer, dieser mächtigen Verstorbenen, die vermögen, was kein Lebender, der Menschen tausendweis niederhauen läßt, vermag, was diese mächtigen Verstorbenen selbst nicht vermochten als Lebende, sondern nur vermögen als Verstorbene: eine rasende Menge in Gehorsam zu zwingen, just weil diese rasende Menge in Ungehorsam die Märtyrer totschlagen durfte.«317 In diesem entscheidenden Augenblick des »Umschlags« werden nur Märtyrer die Welt noch regieren können, 130 aber keine wie immer gearteten weltlichen Führer. Was dann not tut, sind Geistliche, aber keine Soldaten und Diplomaten. »Geistliche, welche >die Menge< trennen können und sie zu Einzelnen machen; Geistliche, die nicht zu große Ansprüche machten an das Studieren, und nichts weniger wünschten als zu herrschen; Geistliche, die, womöglich, gewaltig beredsam, nicht minder gewaltig wären im Schweigen und Erdulden; Geistliche, die, womöglich, Herzenskenner, nicht minder gelehrt wären in Enthaltsamkeit von Urteilen und Verurteilen; Geistliche, die Autorität zu brauchen wüßten, mit Hilfe der Kunst Aufopferungen zu machen; Geistliche, die vorbereitet, erzogen, gebildet wären zu gehorchen und zu leiden, so daß sie mildern, ermahnen, erbauen, rühren, aber auch zwingen könnten - nicht durch Macht, nichts weniger, nein, durch den eigenen Gehorsam zwingen, und vor allem alle Unarten des Kranken geduldig leiden, ohne gestört zu werden... Denn das Geschlecht ist krank und, geistig verstanden, krank bis zum Tode.« 318 Die Macht der Zeit führte also auch Kierkegaard, trotz seiner Polemik gegen Hegels Prozeß zu einer weltgeschichtlichen Spekulation und gegenüber Marx zu einem antikommunistischen Manifest. Er verstieg sich bis zur Voraussage der Gefahr, die eintreten müsse, wenn die Katastrophe ausschlagen werde: falsche Verkünder des Christentums werden dann aufstehen, Erfinder einer neuen Religion, die als dämonisch infizierte Gestalten sich vermessen für Apostel erklären, gleich Dieben im Gewande der Polizei. Dank ihren Versprechungen werden sie an der Zeit einen entsetzlichen Rückhalt finden, bis es dann doch offenbar wird, daß die Zeit des Unbedingten bedarf und einer Wahrheit, die gegenüber allen Zeiten gleichgültig ist. Mit diesem Ausblick auf eine Wiederherstellung des Christentums, durch Zeugen, die sich für die Wahrheit totschlagen lassen, ist Kierkegaard der zeitgenössische Antipode zu Marxens Propaganda einer proletarischen Weltrevolution. Als die eigentliche Stärke des Kommunismus begriff Kierkegaard aber das auch in ihm noch enthaltene »Ingredienz« an christlicher Religiosität.

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