Die allgemeine Kritik an Hegels Begriff von der Wirklichkeit
Publié le 22/02/2012
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Der Angriff von Marx und Kierkegaard trennt genau das auseinander,
was Hegel vereint hat; beide kehren seine Versöhnung der Vernunft
mit der Wirklichkeit um. Marx nimmt zum Gegenstand der
Kritik die politische Philosophie und Kierkegaards Angriff richtet sich
gegen das philosophische Christentum. Damit geschieht aber nicht nur
eine Auflösung von Hegels System, sondern zugleich eine solche des
ganzen Systems der bürgerlich-christlichen Welt. Das philosophische
Fundament dieser radikalen Kritik des Bestehenden ist die Auseinandersetzung
mit Hegels Begriff von der »Wirklichkeit« als »Einheit
von Wesen und Existenz«.401 In der Hauptsache bezieht sich der
Streit auf einen einzigen Satz aus der Vorrede zur Rechtsphilosophie:
»Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist
vernünftig«.
Wir können uns heute nur noch schwer den ganzen Ernst des Streites
und die tiefe Erregung vergegenwärtigen, die dieser Satz schon zu
Hegels Lebzeiten ausgelöst hat, weil wir als Erben des 19. Jahrhunderts
unter der »Wirklichkeit« vollendete »Tatsachen« und »Realitäten
« eines Realismus verstehen, der erst nach dem Zerfall des Hegelschen
Real-Idealismus hervortreten konnte.402 Den Anstoß zu diesem
Wandel im Begriff von der Wirklichkeit hat aber auch kein anderer
als Hegel gegeben, indem er, wie niemand vor ihm, die wirkliche,
gegenwärtige Welt zum Inhalt der Philosophie erhob. Denn so wesentlich
wie es der Philosophie als solcher sei, den Inhalt des Bewußtseins
in die Form des Gedankens zu setzen und also »nachzudenken«
über die Wirklichkeit, so wesentlich sei es andrerseits, sich darüber klar
zu werden, daß ihr Inhalt kein anderer als der Gehalt der Welt oder
der erfahrbaren Wirklichkeit sei. Die Übereinstimmung der Philosophie
mit der Wirklichkeit könne sogar als ein äußerer Prüfstein ihrer
Wahrheit betrachtet werden. Weil aber nicht alles und jedes, was nur
geradezu überhaupt existiert, im gleichen Sinn und im selben Maß
eine »Wirklichkeit« ist, muß von ihr unterschieden werden, was eine
nur »vorübergehende«, »bedeutungslose« und »zufällige«, »vergängliche
« und »verkümmerte« Existenz ist. Eine solche bloß zufällige
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Wirklichkeit, die ebensogut auch nicht sein könnte, verdient nicht den
»emphatischen« Namen einer wahrhaften Wirklichkeit.403 Infolge
dieser Abtrennung der zufälligen Existenz von der Wirklichkeit
konnte Hegel in dem Dictum aus der Vorrede zur Rechtsphilosophie
ganz »einfache« Sätze sehen, während sie für die Späteren höchst
zweideutig waren, je nachdem sie den Vorder- oder den Nachsatz
betonten und also die Wirklichkeit nur des Vernünftigen oder die Vernünftigkeit
nur des Wirklichen zum Maßstab der Auslegung nahmen.
Aber noch E. Gans, der Herausgeber der 2. Auflage der Rechtsphilosophie,
konnte in Hegels Satz nichts Verfängliches finden und hat ihn
gegenüber den ihm zuteil gewordenen Anfeindungen als eine einfache
Wahrheit verteidigt. Denn »platt auseinandergelegt« wolle er nicht
mehr und nicht weniger sagen, als daß »das wahrhaft Vernünftige, um
seiner Natur gemäß zu sein, sich stets in die Welt einbildet und
Gegenwart gewinnt, und daß dasjenige, was in der Welt wahrhaft
besteht, auch darin die Rechtfertigung einer ihm inwohnenden Vernünftigkeit
trägt«.404 Wie wenig sich Hegels Satz dennoch von selbst
verstand, geht aber schon daraus hervor, daß ihn Hegel überhaupt
rechtfertigen mußte, und vor allem aus der Art und Weise, wie er es
tat. Er beruft sich nämlich zugleich auf Gott und die Welt, gegenüber
den Theologen und Philosophen, die an der Vernunft der Wirklichkeit
Anstoß nahmen. Den Theologen, meint Hegel, müßte der Satz ohne
weiteres einleuchtend sein, weil ihn die Lehre von der göttlichen Weltregierung
doch selber schon ausspreche, und die Philosophen müßten
so viel Bildung haben zu wissen »nicht nur, daß Gott wirklich«,
sondern daß er »das Wirklichste, daß er allein wahrhaft wirklich« ist.
Die Gleichsetzung der Vernunft mit der Wirklichkeit begründet sich
also — ebenso wie die Wirksamkeit der »Idee« — aus einer Philosophie,
die zugleich Theologie ist und deren Endzweck es ist: durch die Erkenntnis
der Übereinstimmung des Göttlichen und des Weltlichen die
Versöhnung der »selbstbewußten Vernunft« mit der »seienden Vernunft
«, d. i. der Wirklichkeit, endlich hervorzubringen. Die Wahrheit
von Hegels Versöhnung der Vernunft mit der Wirklichkeit wurde von
Ruge und Feuerbach, von Marx und von Kierkegaard in einer Weise
bestritten, die auch schon die Argumente von Haym bis zu Dilthey
vorwegnahm.
Gerade weil Ruge Hegels Begriff von der Wirklichkeit als der Einheit
von Wesen und Existenz im Prinzip übernahm, konnte er auch gegen
Hegels Ausführung dieses Prinzips in der Staatsphilosophie geltend
machen, daß er bestimmte geschichtliche Existenzen, die als solche
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vorübergehen, im Sinne des allgemeinen Wesens verabsolutiert habe.
Auf diese Weise habe sich die Vernunft bei Hegel aus dem gegenwärtigen
und wirklichen Leben des Geistes herausgezogen und das geschichtliche
»Interesse« an den politischen Existenzen als solchen verloren.
405 Er stellt den Leser auf einen doppelten Boden, weil er bald
der einzelnen Existenz ein allgemeines Wesen und bald dem allgemeinen
Wesen eine geschichtliche Existenz unterschiebt.406
Feuerbachs Kritik betrifft nicht das Versagen der logischen Bestimmungen
gegenüber der geschichtlichen Existenz, sondern ihr Mißverhältnis
zur sinnlichen Existenz,407 die ihm der Maßstab des Wirklichen
war. Als sinnliche Existenz erscheint die Wirklichkeit unmittelbar
als das, was sie ist; die Unmittelbarkeit bedeutet aber für Feuerbach
kein bloßes noch-nicht-Vermitteltsein, wie bei Hegel, der das
Sein in bezug auf die geistige Tätigkeit des Vermittelns als das Unmittelbare
bestimmt. Indem das spekulative Denken innerhalb seiner
selbst sich das Sein als das Unmittelbare entgegensetzt, vermag es den
Gegensatz zwischen dem wirklichen Sein und dem Denken scheinbar
ohne Schwierigkeit aufzuheben.408 Im Gegensatz zu dieser erdachten
Unmittelbarkeit des Seins, welches Denken ist, behauptet Feuerbach
den positiven und primären Charakter der unmittelbar-sinnlichen
Wirklichkeit, die aber dennoch nichts Gedankenloses und sich von
selbst Verstehendes ist. Denn näherliegend als die sinnliche Anschauung
der gegenständlichen Wirklichkeit, zu der man aus sich herausgehen
muß, ist die bloß subjektive Vorstellung von etwas, welche im
Vorgestellten bei sich bleiben kann. Damit die sinnliche Anschauung
das Seiende in seiner Wirklichkeit zeigt, bedarf es daher eines ähnlichen
Umschwungs wie einst von der orientalischen Traumwelt zur
griechischen Sinnfälligkeit, die uns erstmals das Seiende so sehen ließ,
wie es unverfälscht ist.409 Dagegen ist die intellektuelle Anschauung
der Hegelschen Spekulation ein konstruierendes Denken in Identität
mit sich selbst, und was sie erreicht, ist nicht diese wirkliche Welt,
sondern nur die Verdiesseitigung einer theologischen Hinterwelt. Aus
der christlichen Theologie ist auch Hegels These von der Vernunft des
Wirklichen zu erklären. »Die Identität von Denken und Sein ist ...
nur der Ausdruck von der Gottheit der Vernunft - der Ausdruck
davon, daß ... die Vernunft das absolute Wesen, der Inbegriff aller
Wahrheit und Realität ist, daß es keinen Gegensatz der Vernunft
gibt, daß vielmehr die Vernunft alles ist, wie in der strengen Theologie
Gott alles ist, d. i. alles Wesenhafte und wahrhaft Seiende.«410
Nur das sinnliche Sein, das unterschieden vom Denken eines Gedan-
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kens ist, bezeugt wie ein unbestechlicher Zeuge das wahre Sein als die
selbständige Wirklichkeit eines Seienden. Für den Denker als Denker
411 gibt es aber kein wirkliches Sein und keine reale Existenz,
kein Dasein und kein Fürsichsein, wohl aber für den sinnlich denkenden
Menschen.412
Mit dieser Fixierung auf die sinnlich existierende Wirklichkeit, die je
bestimmt und inhaltsvoll ist, verzichtet Feuerbach bewußt auf die
ontologische Frage nach dem unterschiedslosen Sein überhaupt, das
von allem Seienden in gleicher Weise aussagbar ist.413 Für das rein
ontologische Denken ist dieses sinnlich bestimmte »Dies« nicht wesentlich
unterschieden von jenem, weil die logische Form des Dies überhaupt
gegenüber allen Gewißheiten der Sinne gleichgültig ist.414 Hegels
Dialektik der sinnlichen Gewißheit hebt so das wirkliche einzelne
»Dies« im Allgemeinlogischen auf, obwohl dieses ein bloßes Wort und
jenes allein eine Sache ist. So wenig aber das Wort schon die Sache ist,
so wenig ist das gedachte oder gesagte Dies schon ein sinnlich-wirkliches
Sein, dessen Existenz für mich eine jeweils »praktische« Frage
ist. Denn das Geheimnis des Seins erschließt sich nicht dem Denken
des Allgemeinen, sondern der sinnlichen Anschauung, der Empfindung
und Leidenschaft. »Nur die Leidenschaft«, sagte Feuerbach in Übereinstimmung
mit Kierkegaard, »ist das Wahrzeichen der Existenz«, weil
es nur ihr in der Tat darauf ankommt, ob etwas ist oder nicht ist;
wogegen für das bloß theoretische Denken dieser praktische Unterschied
interesselos ist.415 Schon die bloße Empfindung hat eine fundamentale
und nicht bloß empirische Bedeutung für die Erkenntnis des
Seins. Der Hunger, der nach Nahrung verlangt, erschließt in der Empfindung
der Leere ein leibhaftiges Verständnis für die Fülle eines
wirklich existierenden Seins. Er ist wie die Liebe und Leidenschaft ein
»ontologischer Beweis« für ein Dasein, dem es in der Tat um ein
»Sein« geht. Nur was meine Befindlichkeit alteriert, was erfreulich
und schmerzlich ist, zeigt damit auch, daß es da »ist« oder fehlt. Und
nur ein Denken, das sich durch Anschauung, Empfindung und Leidenschaft
unterbricht, anstatt sich in sich selber fortzubewegen, vermag
auch theoretisch zu erfassen, was »Wirklichkeit« ist.416
Auch Marx und Kierkegaard haben ihre Hegelkritik an dem Begriff
der wirklichen Existenz orientiert. Rüge richtet sich vorzüglich auf
die ethisch-politische Existenz des Gemeinwesens, Feuerbach auf die
sinnliche Existenz des leibhaftigen Menschen, Marx auf die wirtschaflliche
Existenz der Masse und Kierkegaard auf die ethisch-religiöse des
Einzelnen. Bei Ruge erschließt sich die geschichtliche Existenz dem po-
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litisch verstandenen »Interesse«, bei Feuerbach die wirkliche Existenz
überhaupt der sinnlichen Empfindung und Leidenschaft, bei Marx die
soziale Existenz der sinnlichen Tätigkeit als gesellschaftlicher Praxis
und bei Kierkegaard die ethische Wirklichkeit der Leidenschaft des
inneren Handelns.
Um die »Wirklichkeit« ging es auch den russischen und polnischen
Hegelianern der 40er Jahre, bei denen sich das existentielle Motiv
ihrer Auseinandersetzung mit Hegel mit einer nur dem slawischen
Menschen eigentümlichen Direktheit und Offenheit ausspricht. Die
Unterscheidung der russischen Intelligenz in Westler und Slawophile
ist philosophisch durch die Parteinahme für Hegel und seine Schüler
oder für Schellings Kampf gegen Hegel bestimmt. Weil aber auch
Schellings Forderung einer positiven Philosophie der Wirklichkeit bedingt
ist durch Hegels Anspruch, die Wirklichkeit als den einzigen
Inhalt der Philosophie zu begreifen, ist die russische Auseinandersetzung
mit der deutschen Philosophie auf beiden Seiten durch Hegel bestimmt.
Das bezeugen vor allem die Briefe der damals in Deutschland
studierenden Russen, für welche »Deutschland« und »Hegel« beinahe
dasselbe sind.
J. W. Kirejewski417 (1806-1856) hat auf seinem Weg von der westlichen
zur slawischen Orientierung die These entwickelt, daß es dem
gesamten abendländischen Denken an einem vollen und ganzen Verhältnis
der geistigen Person zur Wirklichkeit fehle. Als den entscheidenden
Grund dafür sah er das westeuropäische Verhältnis von
Kirche und Staat und des Glaubens zum Wissen an, wie es sich seit der
Trennung Roms von Byzanz ergeben hat. Das Resultat der übersteigerten
Rationalität und Zerteiltheit des westeuropäischen Denkens
sind die destruktiven Ideen des 18. Jahrhunderts mit ihrer falschen
Stellung zum Christentum. In Hegels Philosophie ist der allgemeineuropäische
Glaube an die Organisierbarkeit der Idee und der Wirklichkeit
zu seiner höchsten Vollendung gebracht. Weil Hegel aber die
Konstruktion der geistigen Welt aus dem Selbstbewußtsein des Menschen
auf einen unüberbietbaren Gipfel trieb, schuf er zugleich die Basis
für Schellings Erweis der »Negativität« dieser der lebendigen
Wirklichkeit entfremdeten Weise des Denkens. »So ist heute die Situation
der westlichen Philosophie diese, daß sie im Bewußtsein der
begrenzten Geltungssphäre aller rationalen Abstraktion weder auf
diesem Wege fortschreiten, noch einen andern neuen Weg finden kann,
weil eben alle ihre Kräfte beim Ausbau des alten abstrakten Rationalismus
bereits verbraucht worden sind.« 418 Dagegen habe Rußland in
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seinen Klöstern und in den Lehren der griechischen Kirchenväter die
urchristliche Tradition bewahrt und damit die Konzentration aller
geistigen Aktivität auf den ganzen, unzerspaltenen Menschen. »Der
westliche Mensch ist unfähig, einen lebendigen Zusammenhang der
geistigen Vermögen, bei dem keines ohne das andere in Aktion treten
darf, zu begreifen. Ihm fehlt das Verständnis für jenes eigentümliche
Gleichgewicht der Seele, das den in der orthodoxen Tradition erzogenen
Menschen bis in äußere Gesten und Gebärden hinein kennzeichnet.
Dessen Haltung verrät, sogar... an Sturmtagen des Schicksals,
immer noch ... eine letzte tiefe Ruhe, eine Mäßigung, Würde und Demut,
die von seelischem Gleichgewicht, von tiefer innerer Harmonie
des Lebensgefühls zeugen. Demgegenüber erscheint der Europäer beständig
in Ekstase, von geschäftigem, fast theatralischem Auftreten,
voll ewiger Unruhe in seiner inneren und äußeren Haltung, die er
doch mit krampfhafter Anstrengung in ein künstliches Gleichmaß zu
zwingen sucht.« 419 Wenn aber Europa einmal die Prinzipien seines
unwahren Christentums preisgeben und sich auf die Stufe des vorchristlichen
Denkens zurückziehen wird, dann werde es vielleicht auch
wieder fähig werden, die wahre Lehre aufzunehmen, die der Vernunft
weder dienstbar ist noch entgegpensteht.
M. Bakunin (1814—1876) hat sich Hegels Philosophie zunächst als eine
»neue Religion« ausgelegt, in der Hoffnung, durch die völlige Hingabe
an das »Leben des Absoluten« auch alle seine persönlichen Probleme
lösen zu können; sogar die Lebenswege seiner Geschwister
wollte er vom Standpunkt der Hegeischen Philosophie aus bestimmen.
»Alles lebt, alles wird durch den Geist lebendig gemacht. Nur für ein
totes Auge ist die Wirklichkeit tot. Die Wirklichkeit ist das ewige Leben
Gottes... Je lebendiger ein Mensch ist, desto mehr ist er vom
selbstbewußten Geist durchdrungen, desto lebendiger ist für ihn die
Wirklichkeit... Was wirklich ist, ist vernünftig. Der Geist ist die absolute
Macht, die Quelle jeder Macht. Die Wirklichkeit ist sein Leben
und folglich ist sie allmächtig...«420 In der Einleitung zu den von
ihm übersetzten Gymnasialreden Hegels hat er die Notwendigkeit
einer Versöhnung mit der Wirklichkeit proklamiert und sich Hegels
Satz radikal optimistisch zurechtgelegt; denn gegen die Wirklichkeit
revoltieren sei ein und dasselbe wie jede lebendige Lebensquelle in sich
vernichten. »Die Versöhnung mit der Wirklichkeit ist in ... allen Lebenssphären
die große Aufgabe unserer Zeit; Hegel und Goethe sind
die Hauptvertreter dieser Versöhnung, dieser Rückkehr vom Tode
zum Leben.« 421
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Der Aufklärer W. G. Belinskij (1810-1848) hat hieraus weitere Konsequenzen
gezogen. Er schreibt an Bakunin: »Im Schmiedeofen meines
Geistes hat sich eine eigenartige Bedeutung des großen Wortes Wirklichkeit
herausgebildet - ich sehe die von mir früher so verachtete
Wirklichkeit an und erzittere..., weil ich ihre Vernünftigkeit begriffen
habe, weil ich einsehe, daß man aus ihr nichts entfernen darf, daß
man an ihr nichts tadeln darf...« »Wirklichkeit! sage ich beim Aufstehen
und beim Schlafengehen, am Tage und nachts — und die Wirklichkeit
umgibt mich, ich fühle sie überall und in allem, sogar in mir
selbst, in derjenigen neuen Änderung, die an mir von Tag zu Tag bemerkbar
wird.« »Ich treffe jetzt täglich praktische Menschen, und es
ist mir nicht mehr schwer, in ihrem Kreise zu atmen ...« »Ich urteile
über einen jeden nicht nach irgendeiner früher zubereiteten Theorie,
sondern nach den von ihm selbst gegebenen Daten, ich weiß allmählich
zu ihm in die richtige Beziehung zu kommen, und deswegen sind alle
mit mir zufrieden, und ich bin mit allen zufrieden. Ich fange an, im
Gespräch gemeinsame Interessen mit Leuten zu finden, mit welchen ich
früher nie gedacht hätte, etwas gemeinsam zu haben. Ich fordere von
einem jeden nur das, was man von ihm fordern darf, und deswegen
bekomme ich von ihm nur das Gute und nichts Schlechtes...« »Vor
kurzem habe ich eine große Wahrheit erfahren, die für mich (bis jetzt)
ein Geheimnis war... Ich erkannte, daß es keine gefallenen Menschen
gibt, die ihren Beruf verraten haben. Ich verachte jetzt keinen Menschen
mehr, der sich durch eine Heirat zugrunde gerichtet hat, der seinen
Verstand und seine Begabung im Dienst ausgelöscht hat, weil so
ein Mensch gar keine Schuld hat. Die Wirklichkeit ist ein Ungeheuer,
das mit einem eisernen Gebiß bewaffnet ist: wer sich ihr nicht freiwillig
hingibt, den ergreift sie mit Gewalt und verschlingt ihn.«422 In
dieser russischen Umdeutung von Hegels emphatischer Wirklichkeit
liegt Belinskijs eigentümliches Pathos, das ihn veranlaßte, statt des
»blauen Himmels« der Unendlichkeit die »Küchenwirklichkeit« mit
der Landstraße der Vernunft zu versöhnen.423 Er hörte auf romantisch
zu sein und wollte der russischen Wirklichkeit dienen - bis zu der
Konsequenz einer restlosen Anerkennung des russischen Absolutismus,
wodurch er sich mit all seinen Freunden entzweite und schließlich
selbst in eine Krise geriet, die ihn, unter dem Einfluß von Bakunin
und Herzen, nun auf die Seite der Linkshegelianer und in die Opposition
zur russischen Wirklichkeit trieb. Schon zwei Jahre nach
dem zuletzt zitierten Brief an Bakunin verfluchte er sein gemeines
Streben nach einer Aussöhnung mit der erbärmlichen Wirklichkeit. Die
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menschliche Persönlichkeit sei mehr als die ganze Weltgeschichte und
Heine mehr als alle »Berufsdenker«, welche die Wirklichkeit so, wie
sie ist, verteidigen.424 »Ich habe schon längst vermutet, daß die Philosophie
Hegels nur ein Moment ist, vielleicht ein bedeutendes, daß aber
der absolute Charakter ihrer Ergebnisse zum Teufel ist, daß es besser
ist zu sterben, als sie willig anzunehmen... Das Subjekt ist bei ihm
kein Selbstzweck, sondern nur Mittel für einen momentanen Ausdruck
des Allgemeinen, und das Allgemeine ist für ihn ein Moloch,
denn es stolziert in ihm (im Subjekte) und wirft es dann weg wie eine
alte Hose. Ich habe besondere Gründe, auf Hegel böse zu sein, denn
ich fühle, daß ich ihm (in der Grundstimmung) treu war, als ich mich
mit der russischen Wirklichkeit aussöhnte... - - Alles Geschwätz
Hegels über die Sittlichkeit ist reiner Unsinn, denn in dem objektiven
Reich des Gedankens gibt es keine Sittlichkeit, wie auch in der objektiven
Religion nicht. - - Das Schicksal des Subjekts, des Individuums,
der Persönlichkeit ist wichtiger als das Schicksal der ganzen Welt und
als die Gesundheit des chinesischen Kaisers (d. h. der Hegelschen Allgemeinheit).
«425 Als die wahre Versöhnung mit der Wirklichkeit erscheint
ihm nun die, welche Rüge als Praktischwerden der Theorie
propagierte.428 Die Hegelsche Philosophie galt ihm zwar noch als
höchste Spitze der Bildung, aber zugleich als deren Selbstauflösung im
Übergang zu einer neuen Gestalt der Welt, und die Abwendung von
Hegel hat die Bedeutung eines Abfalls von der Philosophie überhaupt.
Im Grunde nicht weniger slawisch, aber der begrifflichen Disziplin und
den Fragestellungen nach vom deutschen Hegelianismus fast nicht
unterscheidbar ist die Philosophie des polnischen Grafen A. Cieszkowski
(1814-1894).427 Er studierte 1832 an der Berliner Universität
und hörte dort die Vorlesungen von Michelet, Hotho, Werder, Gans,
Henning und Erdmann. Sein Eindruck von den Deutschen war, daß
sie das am meisten »synthetische« und zugleich »abstrakte« Volk seien.
»Das konkrete Leben fehlt ihnen überhaupt. Alles findet in Deutschland
einen gesunden und kräftigen Anklang, aber alle diese Elemente
entbehren eines organischen und harmonischen Einklanges. Alles zerfließt
in Partikularitäten, deren Gesamtbild also selbst ein Abstraktum,
ein Hirngespinst, ein caput mortuum ist. Wissenschaft und Leben,
Idealität und Realität, sind voneinander getrennt. Es ist ein beständiges
Drüben und Hüben.«428 Cieszkowski versuchte diese gegenseitige
»Entfremdung« von Theorie und Praxis, von Wissenschaft und
Leben im Geiste des Slawentums in einer »Philosophie der Tat« aufzuheben,
die er ihrerseits in einem »Christianismus« begründete, der
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den Hegelschen Logismus zum ursprünglichen Logos des Christuswortes
zurückführen sollte.429 In Hegels Philosophie sah er einen
Endzustand, der durch den Übertritt aus dem Element des Denkens in
das des Willens zu überwinden sei, weil nur der Wille eine neue Zukunft
erschließe.430 Andrerseits motiviert Hegels Vollendung aber
auch Cieszkowskis Rückgang auf die philosophischen Ursprünge in den
Anfangszuständen der griechischen Philosophie,431 auf die auch Marx,
Kierkegaard und Lassalle gegenüber dem Ende bei Hegel verwiesen.
Seine Auseinandersetzung mit Hegel betrifft vor allem dessen Begriff
von der »Allgemeinheit«. Der wahre Geist ist kein allgemeines und
unpersönliches Denken, sondern das geistige Tun des »vollen Selbst«.482
Hegel hat das Allgemeine zumeist dem Besonderen entgegengesetzt
und beide in der wirklichen Einzelheit aufgehoben — zuweilen aber
auch das Besondere und Einzelne dem Allgemeinen entgegengestellt.
Diese terminologische Unstimmigkeit erklärt sich Cieszkowski daraus,
daß bei Hegel das Allgemeine in jedem Fall das Übergreifende bleibt,
so daß trotz seiner Versicherung, zum konkret Einen zu kommen, das
Einzelne der Allgemeinheit und das Subjekt der Substanz preisgegeben
wird. Das dritte Moment, in dem die Einzelheit und Allgemeinheit
aufhebbar sind, ist nach Cieszkowski die vollkommene Individuation
des Geistes in der göttlichen Person. Erst dadurch wird die
Substanz in der Tat zum Subjekt.433 D. h. Cieszkowski will innerhalb
des Rahmens der deutschen Philosophie des Geistes die christliche
Position erreichen, die Kierkegaard gegen das Denken des Allgemeinen
in paradoxer Weise entwickelt hat. Sein Ziel ist eine Philosophie des
tätigen Lebens, für welche Gott das in sich vollendete Selbst ist, das
frei aus sich schafft.434 Von diesem Standpunkt aus ergibt sich eine
entscheidende Korrektur auch an Hegels Philosophie der Geschichte,
die Cieszkowski in seinen »Prolegomena zur Historiosophie«435 ausgeführt
hat. Im Unterschied zu Hegels Gliederung der Geschichte in
die orientalische, griechisch-römische und christlich-germanische Welt
stellt er die Dreigliederung auf: Antike bis Christus, christlich-germanische
Welt bis Hegel und als Drittes die Zukunft, die nicht nur bei
den Propheten, sondern überhaupt ein integrierender Bestandteil jeder
Geschichtlichkeit ist, weil die Geschichte kein notwendiger Ablauf,
sondern ein freies und verantwortliches Tun ist. Die künftige Geschichte,
an deren Anfang wir stehen, soll die Synthese der vorchristlichen
und der christlichen Weltgestalt bringen. Als die konkrete Frage
der künftigen Welt behandelt er in seinen Schriften die Reform des
Christentums und der politischen Sozietät.
Liens utiles
- PISA 1 EINLEITUNG PISA, internationale Schulleistungsstudien, durchgeführt von der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung), die allgemeine schulische Leistungen mit den Schwerpunkten Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften untersuchen.
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- Leichtathletik 1 EINLEITUNG Leichtathletik, Sammelbezeichnung für eine Gruppe sportlicher Disziplinen, die im Freien oder in der Halle von Einzelsportlern oder Mannschaften wettkampfmäßig ausgetragen werden.
- Bewegung blockfreier Staaten Bewegung blockfreier Staaten (Non-Aligned Movement, NAM), lockerer Zusammenschluss von etwa 110 Staaten, die eine Politik der Bündnisfreiheit praktizieren, d.
- Abschreckung Abschreckung, in der internationalen Politik die Demonstration militärischer Stärke gegenüber potentiellen Angreifern mit dem Ziel, diese von feindlichen Aktionen abzuhalten, weil sie einen vernichtenden Gegenschlag oder erhebliche Verluste fürchten müssten.