Devoir de Philosophie

Nietzsches Beziehung zum Hegelianismus der 40er Jahre

Publié le 22/02/2012

Extrait du document

Nietzsches Ausgang von den historisch-philologischen Wissenschaften hat ihn von vornherein ganz anders zur Geschichte gestellt als Schopenhauer, für dessen philosophische Anschauung der Welt das Studium der Naturwissenschaften wesentlich war. Die Schätzung, welche Nietzsche trotz aller Kritik am historischen Sinn Hegel zuteil werden ließ, ist nicht zuletzt durch diesen Gegensatz zu Schopenhauers unhistorischer Bildung bedingt. Schopenhauer habe es durch seine »unintelligente Wut auf Hegel« dahin gebracht, die ganze letzte Generation von Deutschen aus dem Zusammenhang mit der deutschen Kultur herauszubrechen, »welche Kultur... eine Höhe und divinatorische Feinheit des historischen Sinns gewesen ist«. Aber Schopenhauer sei gerade in dieser Beziehung bis zur Genialität arm, unempfänglich und undeutsch gewesen.563 Der historische Sinn war zu der Zeit, als Schopenhauer zu wirken begann, innerhalb der deutschen Philosophie am einflußreichsten durch K. Fischer vertreten. Mit Bezug auf dessen Geschichte der neueren Philosophie bemerkt Schopenhauer: »Von der Hegelei unheilbar verdorben konstruiert er die Geschichte der Philosophie nach seinen apriorischen Schablonen, und da bin ich als Pessimist der notwendige Gegensatz zu Leibniz als Optimisten: und das wird daraus abgeleitet, daß Leibniz in einer hoffnungsreichen, ich aber in einer desperaten und malörösen Zeit gelebt habe: Ergo, hätte ich 1700 gelebt, so wäre ich so ein geleckter, optimistischer Leibniz gewesen, und dieser wäre ich, wenn er jetzt lebte!«564 So verrückt mache die Hegelei, d. h. der dialektisch formierte historische Sinn. Und er fügt die Bemerkung hinzu, daß sein Pessimismus zwischen 1814 und 1818 entstand und in diesem Jahr - dem des Erscheinens des ersten Bandes der »Welt als Wille und Vorstellung« — schon »komplett erschien«. Die Jahre 1814—1818 seien 200 aber die hoffnungsreichste Zeit in Deutschland gewesen, und folglich sei Fischers Erklärung ein Unsinn. Dieser Zurückweisung des historischen Sinns widerspricht aber nicht, daß Schopenhauers geschichtliche Wirkung in der Tat erst begann, als die deutsche Intelligenz nach dem Fehlschlag der Revolution für sie reif war. Feuerbachs Briefe, A. Herzens Erinnerungen und R. Wagners Selbstbiographie geben eine deutliche Vorstellung von dem Grad der damals eingetretenen Resignation, die Schopenhauers Erfolg provoziert hat. Diesen Zusammenhang seines späten Erfolges mit dem Geiste der Zeit hat Schopenhauer schon um 1843 zu nutzen verstanden. Er schreibt an seinen Verleger, er möge sich doch entschließen, sein Werk um einen zweiten Band vermehrt neu erscheinen zu lassen, damit es endlich nach Verdienst die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich ziehe. Dies sei »zumal jetzt« zu hoffen, »wo die so lange betriebenen Spiegelfechtereien der renommierten Kathederhelden immer mehr entlarvt und in ihrer Nichtigkeit erkannt werden; während zugleich bei gesunkenem religiösem Glauben das Bedürfnis nach Philosophie stärker als je gefühlt wird, daher das Interesse an dieser lebhaft und allgemein geworden, andrerseits aber nichts vorhanden ist, jenes Bedürfnis zu befriedigen«.565 Dies sei aber der günstigste Augenblick zur Erneuerung seines Werkes, und er treffe mit dessen Vollendung wie durch eine glückliche Fügung zusammen. Mit Genugtuung konstatiert er, daß sogar Hegelianer wie Rosenkranz und die Mitarbeiter der Halleschen Jahrbücher nicht mehr umhin könnten, ihn anzuerkennen.566 Der Gedanke an eine Verbindung seiner Philosophie mit Wagners Musik lag ihm dagegen so fern, daß er vielmehr die Polemik gegen Wagner begrüßte: »Dr. Lindner hat mir 2 sehr interessante Hefte des musikalischen Echos gesandt... Der ästh. Kossak bedient sich darin gegen den R. Wagner meiner Aussprüche sehr passend und mit großem Recht. Bravo!«567 Und als er trotz seiner ablehnenden Antwort auf zwei »kuriose Huldigungsschreiben « aus dem Züricher Wagnerkreis vom »Meister« selbst »auf süperbem dickem Papier« den Ring der Nibelungen mit Widmung erhielt, bemerkte er dazu sehr lakonisch: »ist eine Folge von 4 Opern, die er einst komponieren will, wohl das eigentliche Kunstwerk der Zukunft: scheint sehr phantastisch zu sein: habe erst das Vorspiel gelesen: werde weiter sehen.« 568 Siebzehn Jahre später hat sich Nietzsche zusammen mit Wagner als Schopenhauerianer bekannt und ihm als »erhabenem Vorkämpfer« die »Geburt der Tragödie« gewidmet, die in der Tat aus dem Geiste der Musik R. Wagners stammt. Sie nimmt die griechischen Reminis- 201 zenzen und die modernsten revolutionären Tendenzen von Wagners Schrift über »Die Kunst und die Revolution« (1849) in sich auf, und im Grunde ist Nietzsche, auch als er sich »contra Wagner« erklärte, dem Gegner verfallen geblieben, dessen Meisterschaft nicht zum geringsten darin bestand, daß er zu »dirigieren« und zu wirken verstand. Schon Wagners erstes Musikerlebnis war nicht eigentlich musikalisch gewesen; der Eindruck, den er als Knabe von Webers Aufführung des Freischütz empfing, war: »Nicht Kaiser und nicht König, aber so dastehen und dirigieren!«569 Ein Orchester beherrschen, die Menge berauschen und wirken zu können, das war und blieb der Ehrgeiz seiner theatralischen Laufbahn. Einen kommandierenden Künstler im Zeitalter der demokratischen Massen hat ihn Nietzsche genannt, nachdem er sich von dem »Schauspieler« abgewandt und den »Zauberer« mit dem Scharfblick der enttäuschten Verehrung durchschaut hatte. In der Einleitung zu der Schrift über »Die Kunst und die Revolution« zitiert Wagner eine Stelle aus Carlyles Charakteristik der Französischen Revolution als 3. Akt der Weltgeschichte: »Wenn der zweite Teil vor 1800 Jahren anfing, so glaube ich, daß dies der dritte Teil sein wird. Dies ist das... himmlisch-höllische Ereignis: das seltsamste, welches seit tausend Jahren stattgefunden. Denn es bezeichnet den Ausbruch der ganzen Menschheit in Anarchie, in... die Praxis der Regierungslosigkeit - d. h. ... in eine unbezwingliche Empörung gegen Lügen-Herrscher und Lügen-Lehrer — was ich menschenfreundlich auslege als ein... Suchen nach wahren Herrschern und Lehrern. — Dieses Ereignis der ausbrechenden Selbst-Verbrennung ... sollten alle Menschen beachten und untersuchen... als das Seltsamste, was sich je zugetragen. Jahrhunderte davon liegen noch vor uns, mehrere traurige, schmutzig-aufgeregte Jahrhunderte ..., ehe das Alte vollständig ausgebrannt ist und das Neue in erkennbarer Gestalt erscheint.«570 Mit diesem Ausruf des greisen Carlyle hat sich Wagners Aufruf zur Revolution der Kunst in vollkommener Übereinstimmung empfunden und damit zugleich mit dem Krisenbewußtsein der Junghegelianer, das andrerseits auf Nietzsches epochales Bewußtsein von der Krisis in der Geschichte des Nihilismus vorausweist. Er schildert sodann, wie sehr ihn Feuerbachs Schriften gefesselt und die Begriffe seiner Kunstphilosophie bestimmt haben. Glaubte er doch damals in Feuerbachs Auffassung des menschlichen Wesens den von ihm selbst gemeinten »künstlerischen Menschen« vorgezeichnet zu finden. »Hieraus entsprang eine gewisse leidenschaftliche Verwirrung, welche sich als Vor- 202 eiligkeit und Undeutlichkeit im Gebrauche philosophischer Schemata kundgab.« Dieses »Mißverständnis« sei ihm erst nachträglich klar geworden. Ebenso wie Nietzsche späterhin sagen konnte, er habe sich seine »dionysischen Ahnungen« durch Schopenhauersche Formeln und »modernste Dinge« verdorben, indem er an Wagner Hoffnungen anknüpfte, wo nichts zu hoffen war, genau so bedauert auch Wagner, daß er seine erste Schrift mit Feuerbachs Formeln verwirrt habe. In beiden Fällen bestätigt die nachträgliche Korrektur aber auch die ursprüngliche Abhängigkeit - bei R. Wagner von dem revolutionären Pathos der 40er Jahre, und bei Nietzsche von dem R. Wagners. In der Vorrede zur Geburt der Tragödie aus dem Jahre 1886 macht Nietzsche selbst darauf aufmerksam, daß diese Schrift trotz ihres scheinbaren Griechentums noch ein Stück Antigriechentum sei, berauschend und benebelnd wie Wagners Musik »ein Romantiker-Bekenntnis von 1830, unter der Maske des Pessimismus von 1850«, — eine Selbstkritik, die mehr Wahrheit enthält als der Abschluß der Vorrede mit dem tanzenden und lachenden Zarathustra. Während aber Nietzsche seinen Willen zu einer geistigen Revolution in keiner politischen Realität erprobte, hat sich Wagner mit dem Einsatz seiner Person auch an diesem berauschenden Schauspiel beteiligt, zunächst 1830 in Leipzig, wo er seiner eigenen Aussage nach wie ein Wahnsinniger an den Zerstörungen teilnahm. Desgleichen stürzte er sich 1849 mit Röckel und Bakunin in den Strom der Dresdener Geschehnisse, die er auch literarisch in Feuerbach-Marxschen Phrasen begrüßte: »Ich will zerstören die Herrschaft des einen über den andern, der Toten über die Lebendigen, des Stoffes über den Geist; ich will zerbrechen die Gewalt der Mächtigen, des Gesetzes und des Eigentums. Der eigene Wille sei der Herr des Menschen, die eigene Lust sein einziges Gesetz, die eigene Kraft sein ganzes Eigentum, denn das Heilige ist allein der freie Mensch, und nichts Höheres ist denn Er. ... Und seht, die Scharen, auf den Hügeln, sie liegen lautlos auf den Knien ... Begeisterung strahlt von ihrem veredelten Antlitz, ein leuchtender Glanz entströmt ihrem Auge, und mit dem himmelerschütternden Rufe: >ich bin ein Mensch!< stürzen sich die Millionen, die lebendige Revolution, der Mensch gewordene Gott hinab in die Täler und Ebenen und verkünden der ganzen Welt das neue Evangelium des Glücks!«571 In dieser Zeit war Wagner politisch und geistig so »freigeistig« wie Heine. Gleich Feuerbachs Grundsätzen zur »Philosophie der Zukunft« wollte auch er ein »Kunstwerk der Zukunft« entwerfen572, und von der »Zukunft unserer Bildungsanstalten« handeln auch Nietzsches Vor- 203 träge, in denen er die Nachwirkung des »desperaten Studententums« des Jungen Deutschland durchschaute.573 Der größere Sinn für die Wirklichkeit lag entschieden bei Wagner. Er hat die Problematik der Kunst als eine solche des öffentlichen Lebens verstanden und den Verfall der griechischen Tragödie mit der Auflösung der griechischen Polis erklärt, so wie er andrerseits den Geist der industriellen Unternehmungen unserer Großstädte als das Wesen auch des modernen Kunstbetriebs ansah. Die Formulierungen, in denen er das ursprüngliche und das verfallene Verhältnis der Kunst zum öffentlichen Leben darstellt, sind wörtlich der Hegelschen Schule entnommen — man könnte im einzelnen die Begriffe herausheben, die von Hegel und Marx herkommen. Die Kunst sei ursprünglich aus der »selbstbewußten Allgemeinheit« des Lebens erwachsen — der »Gott der 5 Prozente« sei heute der Gebieter und Festordner aller Kunstunternehmungen. Die »Helden der Börse« beherrschen den Markt der modernen Kunst, wogegen die griechische Tragödie der »freie Ausdruck einer freien Allgemeinheit« war. Die Tragödien des Äschylos und Sophokles waren »das Werk Athens« - das moderne Theater ist »eine Blüte aus dem Sumpf der modernen Bourgeoisie«. Die echte Kunst der Gegenwart muß notwendig revolutionär sein, weil sie nur im Gegensatz zum Bestehenden überhaupt existiert. »Aus ihrem Zustande zivilisierter Barbarei kann die wahre Kunst sich nur auf den Schultern unserer großen sozialen Bewegung zu ihrer Würde erheben: sie hat mit ihr ein gemeinschaftliches Ziel, und beide können es nur erreichen, wenn sie es gemeinschaftlich erkennen.« Mit Bezug auf Carlyles Leitspruch fordert Wagner am Schluß, daß die Revolution der Kunst ebenso radikal sein müsse wie der Umsturz des Heidentums durch das Christentum. »So würde uns denn Jesus gezeigt haben, daß wir Menschen alle gleich und Brüder sind; Apollon aber würde diesem großen Bruderbunde das Siegel der Stärke und Schönheit, er würde den Menschen vom Zweifel an seinem Werte zum Bewußtsein seiner höchsten göttlichen Macht geführt haben. So laßt uns denn den Altar der Zukunft, im Leben wie in der lebendigen Kunst, den zwei erhabensten Lehrern der Menschheit errichten: Jesus, der für die Menschheit litt, und Apollon, der sie zu ihrer freudenvollen Würde erhob!« — Im Gegensatz zu Wagner, der sich den griechischen Gott alsbald ins Pseudogermanische übersetzte, hat Nietzsche schon in der Geburt der Tragödie Dionysos an Stelle von Christus genannt und schließlich Wagners christlich-germanische Helden als einen typischen Fall deutscher Unwahrheit bloßgestellt. Ursprünglich hatte er aber geplant, 204 sich als eine Art Propagandachef von Bayreuth dem Dienste Wagners zu widmen. Sein späterer Angriff auf Wagner ist nur aus dieser Ergriffenheit von ihm zu verstehen. Der Anregung von Bayreuth folgend, schrieb Nietzsche auch seine erste Unzeitgemäße Betrachtung über D. F. Strauß, eine Kritik des »Bildungsphilisters«, die schon in Wagners Kunstwerk der Zukunft angelegt ist. Dieser Angriff richtet sich gegen den »neuen Glauben« von Strauß, zugleich ist er aber auch ein weiterer Schritt auf dem Wege zu jener Befreiung, die Strauß selbst schon durch seine früheren Schriften gegen den alten Glauben im allgemeinen Bewußtsein der Zeit hervorgebracht hatte. Der »im Grunde kräftig und tief angelegten Gelehrten- und Kritiker-Natur« des jungen Strauß versagte selbst Nietzsche nicht seine Achtung.574 Noch im Ecce homo rühmte er sich, durch die Kritik des »ersten deutschen Freigeistes« zugleich seine eigene Befreiung zum Ausdruck gebracht zu haben. So hatte auch ein Rezensent seine Schrift verstanden, indem er als ihre Aufgabe ansah, »eine Art Krisis und höchste Entscheidung im Problem des Atheismus« herbeizuführen. Darum konnte sich Nietzsche aber auch den weltverbessernden »libres penseurs«, welche diesen entscheidenden Punkt der Befreiung noch gar nicht empfanden, fremder fühlen als ihren Gegnern. Der Unterschied zwischen dem religiösen Atheismus von Strauß und dem Antichristentum Nietzsches ist im Grunde derselbe wie der, den Nietzsche an Wagners Begriff von der »Sinnlichkeit« aufwies: Wagner habe sie zwar formuliert auf den Wegen von Feuerbach, aber dann »umgelernt«, um schließlich eine verzückte »Keuschheit« zu predigen. 575 Auch Nietzsches »Atheismus« hat umgelernt und am Ende einen neuen Glauben verkündet. Was jedoch beider Wandlungen unterscheidet, ist, daß Nietzsche niemals charakterlos war, wie er es Wagner mit Bezug auf dessen Stellung zum »Reich« und zum Christentum vorwarf.576 Wagner konnte nicht eindeutig sein, weil seine Musik etwas »bedeuten« wollte, was sie als solche nicht war. »Was bedeutet Elsa? Aber kein Zweifel: Elsa ist >der unbestimmte Geist des Volkesdie Idee< will sagen etwas, das dunkel, ungewiß, ahnungsvoll ist.« Diesen Geschmack hatte Wagner begriffen, er erfand sich einen Stil, 205 der »Unendliches« bedeutet, er faßte die Musik als »Idee« und wurde der Erbe Hegels. »Dieselbe Art Mensch, die für Hegel geschwärmt, schwärmt heute für Wagner; in seiner Schule schreibt man sogar Hegelisch! — Vor allen verstand ihn der deutsche Jüngling. Die zwei Worte >unendlich< und >Bedeutung< genügten bereits: ihm wurde dabei auf eine unvergleichliche Weise wohl. ... Es ist Wagners Genie der Wolkenbildung, sein Greifen, Schweifen und Streifen durch die Lüfte, sein Überall und Nirgendswo, genau dasselbe, womit... seinerzeit Hegel verführt und verlockt hat!« 577 Eine direkte Beziehung zur Hegelschen Schule hatte Nietzsche durch sein Verhältnis zu B. Bauer. An ihm, heißt es im Rückblick des Ecce homo, habe er seit seinem Angriff auf Strauß einen seiner aufmerksamsten Leser gehabt. In Briefen an Taine, Brandes und Gast rühmt er ihn als seinen einzigen Leser, ja als sein »ganzes Publikum«, neben Wagner, Burckhardt und G. Keller.578 Ob Nietzsche außer Bauers Schrift »Zur Orientierung über die Bismarcksche Ära« (1880)579 auch die theologischen Schriften aus den 40er Jahren bekannt waren, ließ sich bisher nicht feststellen. Die Wahrscheinlichkeit ist aber nicht von der Hand zu weisen, zumal Overbeck Bauers religionskritische Arbeit verfolgt und z. T. rezensiert hat.580 Wie immer es sich damit verhalten mag, die Entsprechungen zwischen Nietzsches »Antichrist« und Bauers »Entdecktem Christentum« sind so auffallend, daß sie zumindest einen unterirdischen Gang im Fortgang des 19. Jahrhunderts bezeichnen und nicht minder aufschlußreich sind wie die Übereinstimmungen zwischen Bauers Kritik des Christentums und der in den theologischen Jugendschriften von Hegel.581 Stirner wird zwar in Nietzsches Schriften nirgends erwähnt, daß er ihm aber bekannt gewesen sein muß, und zwar nicht nur durch Langes Geschichte des Materialismus, ist durch Overbecks Zeugnis erwiesen. 582 Man hat Stirner des öfteren mit Nietzsche verglichen und sich bis zu der Behauptung verstiegen, daß Stirner das »Gedankenarsenal« sei, dem Nietzsche seine Waffen entnahm,583 während andre Stirner als einen Phrasenmacher beurteilten, dessen kleinbürgerliche Mediokrität sich mit Nietzsches aristokratischem Rang überhaupt nicht vergleichen lasse. Solche Bewertungen berühren nicht die geschichtliche Frage. Beide können durch eine Welt geschieden sein und dennoch zusammengehören, durch die innere Konsequenz ihrer radikalen Kritik an der christlichen Humanität. Und so liegt die Vermutung nahe, daß Nietzsche gerade deshalb so »haushälterisch«, wie es Overbeck nannte, mit seiner Kenntnis von Stirner umging, weil dieser ihn 206 anzog und zugleich abstieß und er nicht mit ihm verwechselt sein wollte. Gemeinsam ist ihnen vor allem das epochale Bewußtsein in bezug auf das Christentum und die darin begründete Idee einer »Überwindung des Menschen«. Es ist kein Zufall, daß der Begriff vom »Übermenschen « in einem philosophisch bestimmten Sinn zuerst im Umkreis von Stirner auftaucht.584 Der Übermensch, welcher ursprünglich der Gottund Christusmensch war,585 verwandelt seit Feuerbachs anthropologischer Wendung seine Bedeutung: im Verhältnis zum Allgemein- Menschlichen wird er einerseits unmenschlich und andrerseits mehr als bloß menschlich. In diesem Sinn hat M. Heß586 die Worte Übermensch und Unmensch gebraucht und mit jenem auf Bauer und mit diesem auf Stirner gezielt. Bauers These, daß der Mensch in der christlichen Religion die »Unmenschlichkeit« als sein Wesen verehrt,587 entspricht die von Stirner, daß, solange Christus der Übermensch ist, auch der Mensch noch kein Ich ist. Die Überwindung des Christentums ist darum identisch mit der Überwindung des Menschen. Diesem Zusammenhang zwischen dem Gottmenschen Christus, dem christlich verstandenen Menschen und dem sich selber zu eigenen Ich, das im Verhältnis zu jenen ein »Unmensch« ist, entspricht bei Nietzsche der nicht minder konsequente Zusammenhang zwischen dem Tod Gottes und der Überwindung des Menschen zum Übermenschen, welcher Gott und das Nichts besiegt. Indem Nietzsche das »große Ereignis«, daß Gott tot ist, in seiner vollen Bedeutung für die Humanität des Menschen begriff, hat er zugleich erkannt, daß der Tod Gottes für den sich selber wollenden Menschen die »Freiheit zum Tode« ist.588 Nietzsches gelegentliche Bemerkung, daß die eigentlichen Erzieher der Deutschen des 19. Jahrhunderts die Schüler von Hegel waren, geht in ihrer Bedeutung weit über das hinaus, was Nietzsche selber bewußt sein konnte.589 Der Weg, der über die Junghegelianer von Hegel zu Nietzsche führt, läßt sich am deutlichsten mit Bezug auf die Idee vom Tode Gottes bezeichnen: Hegel gründete auf den Ursprung des christlichen Glaubens aus dem Kreuzestod Christi als der »Wahrheit« der »Gottlosigkeit«590 seine Vollendung der christlichen Philosophie; Nietzsche auf das zu Ende gehende Christentum seinen Versuch, die »Verlogenheit von Jahrtausenden« zu überwinden durch eine Wiederholung des Ursprungs der griechischen Philosophie. Für Hegel bedeutet die Menschwerdung Gottes die einmal für immer vollzogene Versöhnung der menschlichen und göttlichen Natur; für Nietzsche und Bauer, daß der Mensch gebrochen wurde in seiner wahren Natur. 207 Hegel erhebt die christliche Lehre, daß Gott »Geist« ist, zu einer philosophischen Existenz; Nietzsche behauptet, daß der, welcher sagte, Gott sei Geist, den größten Schritt zum Unglauben machte,591 der nur wieder gut gemacht werden könne durch die Wiedergeburt eines leibhaftigen Gottes.

Liens utiles