A. Ruge
Publié le 22/02/2012
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A.Ruge(18o2-188o)
Entschiedener als Feuerbach hat Ruge die neue Philosophie der neuen
Zeit darauf gegründet, daß sie »alles auf die Geschichte setzt« - »versteht
sich«, fügt er als Hegelianer hinzu, »die philosophische Geschichte
«.229 Philosophisch ist aber die Geschichte nicht nur als Philosophie-
Geschichte, sondern auch und vor allem als zeitliches Geschehen
und Geschichtsbewußtsein schlechthin. Die »wahre Wirklichkeit«
sei »gar nichts anderes als« das »Zeitbewußtsein«, welches das »echtpositive,
das letzte historische Resultat« ist.230 Die »geschichtliche
Idee einer Zeit« oder der »wahrhafte Zeitgeist« ist der »absolute Herr«
und Geltung behält in der Geschichte nur, »was eben die Macht der
Zeit« ist. Denn die Absolutheit des Geistes ist nur reell im historischen
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Prozeß, der mit Freiheit von dem »politischen Wesen«, welches der
Mensch ist, gemacht wird.231
Die Sphären des Absoluten in Hegels System seien dagegen bloße
Verabsolutierungen der an ihr selber absoluten Geschichte. »Das Absolute
erreichen wir nur in der Geschichte, in ihr wird es aber auch an
allen Punkten erreicht, vor und nach Christus; der Mensch ist überall
in Gott, die letzte historische Form aber der Form nach die höchste
und die Zukunft die Schranke alles Historischen. Nicht in Christus ist
die Form der Religion, nicht in Goethe die der Poesie, nicht in Hegel
die der Philosophie vollendet; alle sind so wenig das Ende des Geistes,
daß sie vielmehr ihre größte Ehre darin haben, der Anfang einer neuen
Entwicklung zu sein.«232 Weil alles in die Geschichte fällt, ist die
jeweils »neueste« Philosophie das »wahrhaft Positive«, das die Zukunft
als seine eigene, lebendige Negation im voraus in sich trägt. »Der
geschichtliche Geist« oder das »Selbstbewußtsein der Zeit« berichtigt
sich selbst im Laufe der Geschichte, die auch das Ende von Hegels System
sein müßte.233
Ein Titel wie »Unser System oder die Weltweisheit und Weltbewegung
unserer Zeit«234 nimmt daher nicht bloß nebenbei Bezug auf die
Zeit, sondern dieses »System« ist so unmittelbar eine Philosophie der
Zeit wie die Wehweisheit eins ist mit der Weltbewegung. Der »Geist
unserer Zeit« ist auch das erste Wort, mit dem Ruge im 4. Band seiner
Studien »Aus früherer Zeit« die Deutschen anspricht, und worin er
im Anschluß an Hegels Geschichte der Philosophie die Entwicklung
von Plato bis Hegel und zuletzt die »kritische Entwicklung der Philosophie
und des Zeitgeistes« von 1838—1843 auf eine musterhaft populäre
Weise zur Darstellung bringt. Der philosophische Gedanke gilt
ihm auch hier als Genosse der Zeit, denn der allgemeine Zeitgeist bilde
mit der jedesmaligen Philosophie ein und dieselbe Geistesbewegung.
Und in der Tat ist wohl keine Zeit bis in die Journalistik, Belletristik
und Politik hinein so sehr von Philosophie durchsetzt gewesen
wie diese durch die Junghegelianer bestimmte Epoche. Es ist das Apriori
ihrer zeitgemäßen Philosophie, daß der Zeitgeist - Rüge setzt
ihm gelegentlich die »öffentliche Meinung« gleich — immer und notwendig
»gleichen Schritt« halte mit dem philosophischen Geist der
Zeit. »Diese bewußte Einheit des Weltgeistes und des philosophischen
Geistes« sei charakteristisch für unsere Zeit.235 Daß aber der
Geist der Zeit seinem Wesen nach fortschrittlich ist, stand für Ruge
so fest wie die Tatsache, daß sich der Lauf der Zeit nicht umkehren
läßt. Auch keine Reaktion könne den Geist der Zeit um seine Macht
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und Konsequenz betrügen. Mit Bezug auf die von ihm herausgegebenen
Jahrbücher bemerkt er: »Der letzte Sieg ist der Sieg im Geiste;
wenn also von einer Stellung der Jahrbücher zur Geschichte und damit
(!) von der Zukunft ihrer Richtung die Rede ist, so ergibt sich
hierüber der Aufschluß aus dem öffentlichen, oder genauer dem gegenwärtigen,
an seiner wahren Öffentlichkeit gehinderten Geist. Denn
es ist jedermanns Geheimnis, daß der ostensible Geist bezahlter und
überwachter Zeitungen nicht der wirkliche und der interesselose alter
gelehrter Institute nicht der lebensfähige ist.« 236 Der wahrhaft gegenwärtige
Zeitgeist ist also zwar unter Umständen ein öffentliches Geheimnis,
aber er ist in jedem Fall das, was die Geschichte unter allen
Umständen zum Siege vorantreibt. Die »Vernunft der Zeit« sei leicht
zu erkennen, jedermann kenne sie, wenn er sie kennen will.
Der eigentliche Entdecker der Einheit der Philosophie mit der Zeit ist
aber für alle Junghegelianer niemand anders als Hegel. Sie berufen
sich zur Rechtfertigung ihrer radikalen Historisierung des Geistes auf
Hegels Vorrede zur Rechtsphilosophie, wo es heißt: »Was das Individuum
betrifft, so ist ohnehin jedes ein Sohn seiner Zeit; so ist auch
die Philosophie ihre Zeit in Gedanken erfaßt. Es ist ebenso töricht zu
wähnen, irgendeine Philosophie gehe über ihre gegenwärtige Welt
hinaus, als, ein Individuum überspringe seine Zeit.« 237 Während aber
Hegel aus dem Umstand, daß keine Theorie ihre Zeit überschreite,
eine reaktionäre Folgerung gegen das vermeintliche »Sollen« zog und
es ablehnte, im »weichen Element« des Meinens eine Welt zu erbauen,
die nicht ist, aber sein soll, haben sich seine Schüler auf Grund derselben
Identität von Geist und Zeit, aber im Blick auf die Zukunft,
umgekehrt auf das Seinsollen versteift und die Philosophie im Zuge
der fortschreitenden Zeit in den Dienst der Revolution stellen wollen.
Trotz dieses Gegensatzes in der Orientierung der Zeit auf die Zukunft
oder Vergangenheit gilt in beiden Fällen die These von der notwendigen
Einstimmigkeit des philosophischen Bewußtseins mit dem geschichtlichen
Sein.238 Wie für Hegel die Geschichte des Geistes das
Innerste der Weltgeschichte war, so wird von den Junghegelianern das
»wahre« Geschehen der Zeit zum Maßstab der Bewegung des Geistes
gemacht und die Vernunft der Geschichte nun selber zeitgeschichtlich
bemessen.
Infolge dieser prinzipiellen Verknüpfung der Zeit mit dem Geist
wurde auch von Hegels System auf die Zeit, in der es entstand, reflektiert.
Das Ergebnis ist bei Ruge ein doppeltes: die Hegelsche Philosophie
sei »gleichzeitig« mit der Französischen Revolution, die den
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freien Menschen zum Zweck des Staates erhob. Dasselbe tue auch Hegel,
indem er zeigt, daß das Absolute der denkende Geist und dessen
Wirklichkeit der denkende Mensch ist. Als politische Weltbildung lebe
der Geist der Freiheit in der Aufklärung und Revolution, als Metaphysik
in der deutschen Philosophie.239 In Hegel haben die Menschenrechte
ihr philosophisches Selbstbewußtsein erreicht, und die weitere
Entwicklung könne nichts anderes als dessen Verwirklichung sein. —
Dieselbe Philosophie, welche dem menschlichen Geist die höchste
Würde des absolut Freien erwarb, ist aber auch eine Zeitgenossin des
»Gegenstoßes des alten Zeitgeistes« gegen die Freiheit im Denken und
im politischen Wollen. Hegel war also sowohl dem fortschreitenden
wie dem rückschreitenden Geist der Zeit verbunden, und soweit er das
letztere war, ist er seinem eigenen Prinzip, dem Fortschritt im Bewußtsein
der Freiheit, untreu geworden. Die Aufgabe des fortschreitenden
Geistes der Zeit ist daher: Hegels Philosophie mittels der dialektischen
Methode von sich selbst zu sich selbst zu befreien. Gemäß
Hegels Satz, daß »die Gegenwart das Höchste« sei,240 ist es das höchste
Recht der über ihn hinaus geschrittenen Zeit, sein System durch Kritik
gegen ihn selbst zu verteidigen, um das Prinzip der Entwicklung und
Freiheit zur Geltung zu bringen. Die Geschichte entwickelt durch Negation
die in Hegels System beschlossene Wahrheit, indem sie den noch
bestehenden Widerspruch zwischen dem »Begriff« und der »Existenz«
durch theoretische Kritik und praktische Revolution beseitigt. Die
deutsche Revolution von 1848 ist die praktische Seite dieser theoretischen
Korrektur.241
Das literarische Organ für die theoretische Vorbereitung des praktischen
Umsturzes waren die »Hallischen Jahrbücher für deutsche Wissenschaft
und Kunst« (1838-1843),242 die seit ihrem erzwungenen
Wegzug von Preußen nach Sachsen in »Deutsche Jahrbücher« umbenannt
wurden. Zu ihren Mitarbeitern gehörten u. a. Strauß, Feuerbach,
Bauer, F. Th. Vischer, E. Zeller, Droysen, Lachmann, J. und W.
Grimm. Es ist nicht zuviel gesagt, wenn Rüge im Vorwort zum
4. Jahrgang behauptet, daß keine gelehrte deutsche Zeitschrift jemals
in dem Maße Genugtuung erfahren habe, daß ihre Erörterungen zu Ereignissen
wurden, die weit über den Kreis der Theoretiker hinausgingen
und das unmittelbare Leben mit ins Interesse zogen. Die deutsche
Philosophie hat bis zur Gegenwart dieser Zeitschrift nichtsan
die Seite zu stellen, was ihr an kritischer Eindringlichkeit, Schlagkräftigkeit
und geistespolitischer Wirksamkeit gleichkäme.
Den Inhalt nach betrifft die in den Jahrbüchern geleistete Kritik vor
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allem die Religion und die Politik. Rosenkranz rügte an Ruges Schriften
den brüsken, »atheistisch-republikanischen« Ton. Die deutschen
Atheisten erschienen ihm täppisch und knabenhaft gegenüber den
wohlgesitteten und vielseitig gebildeten Holbachianern.243 Verglichen
mit Bauers radikaler Überholung der Religionskritik von Strauß und
Feuerbach ist aber Ruge noch sehr gemäßigt, und die letzten Studien
von Rosenkranz zeigen, daß er in der Sache von Ruges Standpunkt
gar nicht so weit entfernt war: auch bei ihm hat sich die Entfaltung
des Geistes stillschweigend in den Fortschritt der Menschheit verwandelt.
Entscheidender als Ruges Aufhebung der christlichen Religion in der
»humanisierten Welt des befreiten Menschen« ist seine Kritik des
Staats und der Politik. In einem Aufsatz der Jahrbücher über »Politik
und Philosophie« unterscheidet er die Alt- und Junghegelianer dadurch,
daß jene Hegels Philosophie dem Bestehenden akkommodieren,
während diese sowohl die Religions- wie die Rechtsphilosophie in eine
»negierende und ponierende Praxis« überführen. Die Junghegelianer
sind deshalb gezwungen zu protestieren, einerseits gegen Hegels »Bescheidenheit
«, womit er die politische Wirklichkeit statt in den gegenwärtigen
deutschen Prozeß in einen schon zu seiner Zeit vergangenen
Stand der Dinge nach Altengland versetzt;244 andererseits gegen den
»Hochmut« der absoluten Philosophie, die in der Erinnerung des Gewesenen
der »gegenwärtige jüngste Tag« sein will, wo doch die Philosophie
durch ihre Kritik erst jetzt die Zukunft beginnt. Anstatt einen
absoluten Staat mittels der Kategorien der Logik zu konstruieren,
ist seine gegenwärtige Existenz mit Rücksicht auf die nächste Zukunft
historisch zu kritisieren. Denn nur der sich bildende Zeitgeist ist auch
die wahrhaft begriffene Wirklichkeit, wie es Hegel selbst »an hundert
Stellen« lehrt, obgleich er alles vermied, was der Kirche und dem
Staat hätte anstößig sein können.
Ruges grundsätzliche Kritik an Hegels Staatsphilosophie enthält bereits
seine Anzeige der 2. Ausgabe der Rechtsphilosophie.245 Als ihr
großes Verdienst sieht er an, daß Hegel den sich selbst bestimmenden
Willen zur Basis seiner Staatslehre machte, so daß der Staat der substanzielle
Wille ist, welcher sich weiß und sein Wissen vollbringt,
während er zugleich in dem freien Wollen und Wissen der Einzelnen
seine vermittelte Existenz hat.248 Der große Mangel in der Ausführung
dieses Prinzips liegt aber darin, »daß Hegel die Geschichte nicht ausdrücklich
mit der Einwirkung ihres ganzen Inhalts in die Rechtsphilosophie
hineinnimmt, sie vielmehr ans Ende setzt« — im Unter-
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schied zur Ästhetik, deren systematische Entwicklung durchweg geschichtlich
ist.
Das Prius der entwickelten Geschichte ist freilich der daseiende Staat,
denn alle Geschichte ist Staatengeschichte, aber der Staat ist schon in
sich selbst eine geschichtliche Bewegung zur Freiheit, die immer nur als
Aktion der Befreiung, aber nie absolut da ist. Hegel zeigt nur den
fixen Begriff des Staates, aber nicht seine Idee in Bewegung, deren
Kraft die Geschichte ist. Auf das absolute System der Freiheit muß
darum jetzt das geschichtliche folgen, die Darstellung der wirklichen
und zu verwirklichenden Freiheit. »An die Stelle des Systems der abstrakten
und theoretisch absoluten Entwicklung tritt das System der
konkreten Entwicklung, welches überall den Geist in seiner Geschichte
erfaßt und ans Ende jeglicher Geschichte die Forderung ihrer Zukunft
setzt.« Hegels spekulative Beschaulichkeit müsse durch Fichtes
Tatkraft247 neu erweckt werden, denn seine Polemik gegen das »Sollen
« führe zu »begriffslosen Existenzen« und damit zur Anerkennung
von bloß Bestehendem, das nicht seinem wahren Begriff entspricht.
Eine solche dem zeitgeschichtlichen Geist widersprechende Existenz sei
z. B. in Hegels Lehre die fürstliche und die Regierungsgewalt, die
Nationalvertretung und das Zweikammersystem. Hegel glaubt nicht
an die Majorität und haßt alle Wahl. Daran nicht glauben bedeutet
aber für Rüge: nicht an den Geist (nämlich der Zeit) glauben! Stupid
sei der Einwand, die Masse sei dumm und »nur im Zuschlagen respektabel
«.248 »In wessen Namen schlägt sie denn zu, und wie geht es zu,
daß sie nur im Namen des welthistorischen Geistes siegt? Wie geht es
zu, daß das Zuschlagen der Massen sich weder 1789 noch 1813 als
geistlos und die Majorität keineswegs als im Unrecht erwiesen haben?
— Es ist ein totales Mißverständnis des Geistes und seines Prozesses,
wenn man bei dem Satze stehen bleibt, philosophia paucis
contenta est judicibus: im Gegenteil, die Wahrheit unterwirft die Welt
in Masse ... Die Wissenden werden mit ihrer Weisheit auf die Dauer
nie von der Majorität verlassen, und wenn die Verkündiger eines
neuen Geistes anfangs in der Minorität sind und allenfalls... untergehen,
so ist ihnen der Beifall, ja die Überhebung ihrer Verdienste bei
der Nachwelt nur um so gewisser... Die Wahrheit der Majorität ist
nicht die absolute, aber sie ist im Großen und Ganzen die Bestimmtheit
des Zeitgeistes, die politische oder die historische Wahrheit; und
wenn nur ein Individuum in einer Nationalversammlung das Wort des
Zeitgeistes auszusprechen weiß (und daran wird es nie fehlen), so
bleibt sicher allemal nur der Egoismus und die böswillige Caprice in
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der Minorität. Den relativen Irrtum teilt die Majorität mit dem
historischen Geist und seiner Bestimmtheit überhaupt, die freilich
von der Zukunft wiederum negiert zu werden sich nicht wehren
kann.« 249
Die Gewißheit von der Wahrheit der Masse ist geradezu »Tugend«
und die »Erfahrung unseres Jahrhunderts«, welcher Hegel jedoch aus
dem Wege ging, obgleich sie nur eine Konsequenz seiner Denkweise
ist, die den Geist in den Weltprozeß setzt. Hegel habe von seinem
noch zu wenig historischen Standpunkt aus diese Wahrheit verleugnet,
d. h. entgegen seinem Prinzip an der Macht des Geistes gezweifelt,
sonst hätte er sich nicht so bemüht, die Wählermassen auszuschließen
aus dem System der Rechte. Statt dessen geriet er auf die Fixierung
der Stände und die absurde Bestimmung des Majorats. In Wirklichkeit
können aber auch die materiellen Interessen der Masse der Entwicklung
des Geistes nicht widersprechen, weil jeder materielle Aufschwung
zugleich ein geistiger ist, wenn die Geschichte »alles« und
eine Wirkung des wirklichen Geistes ist.
Ruges Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie230 beruht wie bei
Marx im Prinzip auf der kritischen Unterscheidung des metaphysischen
»Wesens« von der geschichtlichen »Existenz«. Das allgemeine
Wesen des Staats sei zwar identisch mit dem des Geistes überhaupt
und also bestimmbar mit den allgemeinen Kategorien der Logik (Allgemeinheit,
Besonderheit, Einzelheit) und der Philosophie des Geistes
(Wille und Freiheit); der wirkliche Staat, auf den sich auch Hegel gemäß
seiner These von der Wirklichkeit der Freiheit bezieht, ist aber
eine geschichtliche Existenz, die darum auch nur historisch begriffen
und mit Rücksicht auf ihre Wesentlichkeit kritisiert werden kann. »In
der Logik oder in der Untersuchung des ewigen Prozesses... gibt es
keine Existenzen. Hier ist die Existenz, der Denkende und sein Geist,
die gleichgültige Basis, weil das, was dieser Einzelne tut, nichts anderes
sein soll als ... das allgemeine Tun (des Denkens) selbst... Es
handelt sich hier um das allgemeine Wesen als solches, nicht um seine
Existenz. — In der Naturwissenschaft hat die Existenz des Naturdings
kein Interesse. Obgleich... die existierenden Prozesse das Objekt der
Untersuchung sind, so sind sie doch nur das gleichgültige, immer wiederkehrende
Beispiel des ewigen Gesetzes und des ewigen Verhaltens
der Natur in dem Kreislauf ihrer Selbstproduktion. - Erst mit dem
Eintreten der Geschichte in den Bereich der Wissenschaft wird die
Existenz selbst das Interesse. Die Bewegung der Geschichte ist nicht
mehr der Kreislauf wiederkehrender Bildungen..., sondern sie för-
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dert in der Selbstproduktion des Geistes immer neue Gestalten zutage.
Die Verfassung des Geistes und des Staates zu den verschiedenen Zeiten
hat als diese Existenz ein wissenschaftliches Interesse. Die Zustände
der Bildung sind nicht mehr gleichgültige Beispiele, sondern
Stufen des Prozesses, und die Erkenntnis dieser geschichtlichen Existenzen
geht wesentlich ihre Eigentümlichkeit an, es handelt sich um diese
Existenz als solche.« 251 Hegels absolute Staatsmetaphysik muß darum,
ebenso wie die theologische Dogmatik durch Strauß, historisch kritisiert
werden. Diese Kritik ist auch die einzig objektive Kritik, weil sie
sich am Gang des tatsächlichen Geschehens bemißt. Die historische
Wendung vom allgemeinen Wesen zur individuell-geschichtlichen Existenz
fehlt noch in Hegels Rechtsphilosophie, die deshalb denselben
unfaßbaren Charakter hat wie die Phänomenologie. »Der Hegelsche
Staat... ist nicht reeller als der Platonische und wird nie reeller werden,
denn er erinnert zwar wie jener an den griechischen so an den
jetzigen Staat, er nennt ihn sogar beim Namen, allein er läßt sein Resultat
nicht aus dem historischen Prozeß hervorkommen, wirkt daher
auch nicht direkt auf die Entwicklung des politischen Lebens und Bewußtseins.
Die Franzosen haben dies vor uns voraus: sie sind überall
historisch. Bei ihnen ist der Geist lebendig und bildet die Welt nach
sich.« 252 Um die historische Kritik nicht hervortreten zu lassen, erhebt
Hegel historische Existenzen zu metaphysischen Wesenheiten,
indem er z. B. den erblichen König spekulativ demonstriert.253 Die
wahre Verbindung des Begriffs mit der Wirklichkeit ist aber nicht die
Apotheose der Existenz zum Begriff, sondern die Realisierung des Begriffs
zur wirklichen Existenz. Auch die Freiheit existiert nie absolut,
sondern immer nur relativ auf bestimmte äußere Existenzverhältnisse,
von denen sich der Mensch jeweils befreit. Hegel hält sich auf der
Seite des rein theoretischen Geistes und der rein theoretischen Freiheit,
obwohl er selber in den ersten Paragraphen der Rechtsphilosophie
dargelegt hat, daß das Wollen nur die andere Seite des Denkens, daß
die Theorie selber schon Praxis und der Unterschied zwischen beiden
nur die Wendung des Geistes nach innen oder nach außen sei.254 Die
deutsche Philosophie hat diese praktische Seite der Theorie zwar theoretisch
entdeckt, aber praktisch verdeckt. Die wahre Wissenschaft
geht nicht in die Logik zurück, sondern in die wirkliche Welt der Gechichte
hinaus, »die Logik selbst wird in die Geschichte hineingezogen
« und muß es sich gefallen lassen, als Existenz begriffen zu werden,
weil sie dem Bildungszustand dieser bestimmten Philosophie anhört
und es überhaupt nur eine geschichtliche Wahrheit gibt. Auch
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die Wahrheit ist stets in Bewegung, sie ist Selbstunterscheidung und
Selbstkritik.255
Die theoretische Einseitigkeit von Hegels Rechtsphilosophie kann
ebenfalls nur zeitgeschichtlich begriffen und historisch gerechtfertigt
werden. »Hegels Zeit war der Politik nicht sehr günstig, Publizistik
und öffentliches Leben entbehrte sie gänzlich.«256 Der Geist zog sich
in die Theorie zurück und entsagte der Praxis. Hegel war aber zu sehr
an den Griechen gebildet und hatte mit zu klarem Bewußtsein die
große Revolution erlebt, um nicht zu erkennen, daß der bestehende,
dynastische Staat der bürgerlichen Gesellschaft mit Polizei und Beamtentum
der Idee eines öffentlichen Gemeinwesens, einer »Polis«, in
keiner Weise entsprach. Seine Abwehr der Forderungen des Sollens
entspringt daher einer Inkonsequenz, deren Wurzeln tief in den preußisch-
deutschen Verhältnissen liegen. Kants und Hegels Systeme sind
Systeme der Vernunft und der Freiheit inmitten der Unvernunft und
der Unfreiheit, aber so, daß sich beide dieses Mißverhältnis verdecken.
Kant hat zu Mendelssohn die bekannte Äußerung getan: »Zwar
denke ich Vieles mit der allerklarsten Überzeugung, was ich niemals
den Mut haben werde zu sagen, niemals aber werde ich etwas sagen,
was ich nicht denke.«257 Diese Unterscheidung von öffentlichem Sagen
und privatem Denken beruht darauf, daß Kant »als Denker« vor
sich selbst »als Untertan« so verschieden war wie das damalige öffentliche
Leben vom privaten und die allgemeine Sittlichkeit vom Gewissen
des Einzelnen. Dem Untertan war es nicht erlaubt, Philosoph
zu sein, er wird darum zum Diplomaten, ohne jedoch seine »Selbstbilligung
« zu verlieren. Sein beschränkter Standpunkt ist historisch
der Standpunkt der »protestantischen Borniertheit«, welcher die Freiheit
nur als Gewissensfrage kennt, weil er die Privattugend von der
öffentlichen trennt.258
Noch bedenklicher liegt der Fall bei Hegel, weil dessen Rechtsphilosophie
den Kantischen Standpunkt der Moralität und Gewissensentscheidung
in der allgemeinen und politischen Sittlichkeit aufhebt. Nun
hat zwar Hegel als Philosoph mit dem preußischen Staat keinen ähnlichen
Konflikt gehabt, sondern im Gegenteil von ihm die Bestätigung
seiner Philosophie erfahren, und so konnte er sich auf der Seite des
Denkens im Einvernehmen mit dem Staate behaupten. Seine Übereinstimmung
ist aber doch nur ein Schein, der nur so lange täuschen
konnte, als der Absolutismus des preußischen Staats so vernünftig war,
die Vernunft in Hegels System anzuerkennen, während Hegel seinerseits
nur das Interesse hatte, sein absolutes System des Wissens zu
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gründen und es als solches im Staat zur Geltung zu bringen. Obwohl
Hegel ursprünglich kein Feind der politischen Praxis und der Kritik
des Staates war, hat er sich später auf die Ausbildung der Theorie als
solcher beschränkt und in seiner Heidelberger Antrittsrede die Überzeugung
vertreten, daß sich die Philosophie nicht einlassen dürfe mit
der politischen Wirklichkeit, deren hohe und gemeine Interessen in
der Zeit der Befreiungskriege das Interesse der Erkenntnis verdrängten.
259 Dagegen erhebt Ruge die unwillige Frage: »was heißt das?«
und antwortet: »nichts Geringeres als: Wir fahren nun fort, meine
Herren, wo wir vor der Revolution und dem Kriege stehen geblieben
sind, nämlich in der Ausbildung der innerlichen Freiheit, der Freiheit des
protestantischen Geistes oder der abstrakten Theorie, deren Vollendung
die Philosophie ist. Hegel hat diese Form der Freiheit vollendet und
auf die höchste Spitze getrieben, wo sie umschlagen sollte.«26°
Gerade der Rückzug auf den Begriff als solchen mußte zum Widerspruch
mit der Wirklichkeit führen; denn wenn die reine Einsicht in
das Wesen des Staates gewonnen ist, wird sie dazu getrieben, als Kritik
der Wirklichkeit gegenüberzutreten. Die theoretische Freiheit in
ihrem privaten Fürsichsein mußte durch die Zensur erfahren, daß sie
praktisch negiert wird, weil sie nicht selbst im Gemeinwesen öffentlich
da ist. Das »praktische Pathos« des wahren Wissens läßt sich aber
nicht bändigen. Der Konflikt, der Hegel erspart blieb, ist seinen
Schülern aufgespart worden, »und so leuchtet es ein, daß die Zeit,
oder die Stellung des Bewußtseins zur Welt, wesentlich verändert worden
ist.« »Die Entwicklung ist nicht mehr abstrakt, die Zeit ist politisch,
wenngleich noch gar Vieles daran fehlt, daß sie es genug wäre.« 261
Der Mensch des 19. Jahrhunderts, schreibt Ruge gelegentlich einer
Kritik der »ästhetischen« Periode der deutschen Bildung, könne das
»ethische und politische Pathos« nicht entbehren.262
Für Ruges Entwicklung charakteristisch ist aber nicht nur sein Übergang
von der philosophischen Kritik zur politischen Praxis und vom
bornierten Gewissen zum vermeintlich unbornierten Parteigewissen,
263 sondern auch sein notgedrungener Rückzug auf die Historie,
welche nicht mit Wissen Geschichte macht, sondern nur noch Geschichte
schreibt. Seine letzte Arbeit im Exil war, nebst der Herausgabe
seiner eigenen gesammelten Schriften, eine Übersetzung von
Buckles »Geschichte der Zivilisation in England«. Die von ihm eingeleitete
Arbeit der theoretischen Kritik und praktischen Revolution
des Bestehenden hat Marx mit extremer Konsequenz aufgenommen
und weitergeführt.