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VORWORT ZUR ERSTEN AUFLAGE

Publié le 22/02/2012

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Hegel und Nietzsche sind die beiden Enden, zwischen denen sich das eigentliche Geschehen der Geschichte des deutschen Geistes im 19. Jahrhundert bewegt. Weil man aber in Hegels Werk zumeist den glanzvollen Abschluß der Systeme des Idealismus sah und aus Nietzsches Schriften beliebige Teile zu einer zeitgemäßen Verwendung entnahm, mußte man sich mit Rücksicht auf beide versehen. Hegel scheint sehr ferne und Nietzsche uns sehr nahe zu stehen, wenn man bei diesem nur an den Einfluß und bei jenem nur an das Werk denkt. In Wahrheit hat aber Hegels Werk durch seine Schüler eine kaum zu überschätzende Wirkung auf das geistige und politische Leben gehabt, während sich die zahllosen Einflüsse, die seit 1890 von Nietzsche ausgingen, erst in unsrer Zeit zu einer deutschen Ideologie verdichteten. Den Hegelingen der vierziger Jahre entsprechen die Nietzschelinge von gestern. Im Gegensatz zur akademischen Versteifung auf Hegels System und zur populären Verbiegung von Nietzsches Schriften durch Hegelkenner und Nietzscheverehrer möchten die folgenden Studien die Epoche von Hegel zu Nietzsche wahrhaft vergegenwärtigen und also die philosophische Geschichte des 19. Jahrhunderts im Horizonte der Gegenwart »umschreiben«. Die Geschichte umschreiben besagt aber nicht die unwiderrufliche Macht des einmal für immer Geschehenen auf Kosten der Wahrheit zum Nutzen des Lebens verfälschen, sondern der lebensgeschichtlichen Tatsache gerecht werden, daß man den Baum an seinen Früchten und im Sohne den Vater erkennt. Erst das 20. Jahrhundert hat das eigentliche Geschehen des 19. Jahrhunderts deutlich und deutbar gemacht. Dabei erleichtert die tödliche Konsequenz in der philosophischen Entwicklung nach Hegel das Verfolgen der aufeinander folgenden Schritte, deren Resultat die Verstiegenheit ist. Ein Beitrag zur Geistesgeschichte im üblichen Sinn des Wortes sind diese Studien zur Geschichte des Geistes dennoch nicht. Denn die Grundlagen der Geistesgeschichte, welche von Hegels Metaphysik des Geistes abstammen, haben sich seitdem bis ins Wesenlose verdünnt. Der Geist als Subjekt und Substanz der Geschichte ist nicht mehr ein Fundament, sondern bestenfalls ein Problem. Hegels historischer Relativismus hat zum Anfang und Ende das »absolute Wissen«, in bezug auf welches jeder Schritt in der Entfaltung des Geistes ein Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit ist; das Wissen der historischen Wissenschaften vom »Geiste« ist nicht einmal relativ, denn es fehlt ihm der Maßstab für eine Beurteilung des zeitlichen Geschehens. Was vom Geist übrig blieb, ist nur noch der »Zeitgeist«. Und doch bedarf es, um nur überhaupt die Zeit als Zeit zu begreifen, eines Standpunktes, der das bloße Geschehen der Zeit überschreitet. Weil aber die Gleichsetzung der Philosophie mit dem »Geist der Zeit« ihre revolutionierende Kraft durch Hegels Schüler gewann, wird zumal eine Studie über die Zeit von Hegel bis Nietzsche am Ende die Frage aufwerfen müssen: bestimmt sich das Sein und der »Sinn« der Geschichte überhaupt aus ihr selbst, und wenn nicht, woraus dann? Es liegt den folgenden Studien zur Geschichte des deutschen Geistes im 19. Jahrhundert fern, eine vollständige Geschichte der Philosophie des 19. Jahrhunderts geben zu wollen, zumal die materielle Vollständigkeit eines historischen Begreifens nicht nur unerreichbar, sondern auch wider den Sinn geschichtlicher Wirkungszusammenhänge wäre. In der wirklichen Geschichte der Welt wie des Geistes entfalten sich unscheinbare Ereignisse zu bedeutungsvollen Geschehnissen, und was umgekehrt ereignisreich schien, kann sehr bald bedeutungslos werden. Es ist deshalb sinnwidrig, sei es im voraus oder nachträglich, das Insgesamt feststellen zu wollen, welches eine Epoche nach allen Seiten kennzeichnet. Der Prozeß der Sinnverschiebung ist nie abgeschlossen, weil im geschichtlichen Leben niemals von vornherein feststeht, was am Ende herauskommt. Und so wollen diese Studien lediglich den entscheidenden Wendepunkt zwischen Hegels Vollendung und Nietzsches Neubeginn aufzeigen, um im Lichte der Gegenwart die epochale Bedeutung einer in Vergessenheit geratenen Episode zu erhellen. Das 19. Jahrhundert schien zwar in der Perspektive einer sich ihm überlegen dünkenden Zeit mit einem einzigen Schlagwort erfaßbar und auch schon »überwunden« zu sein, aber noch Nietzsche war sich bewußt, ein Erobernder und ein Erbender zu sein. Vor dem Ganzen der Zeit ist eine Epoche weder lobens- noch tadelnswert, denn eine jede ist Schuldner und Gläubiger zugleich. So hat auch das vergangene Jahrhundert Vorläufer und Mitläufer, Hervorragende und Durchschnittliche, Klare und Trübe in seinen Reihen. Das 19. Jahrhundert, das ist Hegel und Goethe, Schelling und die Romantik, Schopenhauer und Nietzsche, Marx und Kierkegaard, aber auch Feuerbach und Ruge, B. Bauer und Stirner, E. von Hartmann und Dühring. Es ist Heine und Börne, Hebbel und Büchner, Immermann und Keller, Stifter und Strindberg, Dostojewski und Tolstoi; es ist Stendhal und Balzac, Dickens und Thackeray, Flaubert und Baudelaire, Melville 8 und Hardy, Byron und Rimbaud, Leopardi und d'Annunzio, George und Rilke; es ist Beethoven und Wagner, Renoir und Delacroix, Munch und Maries, van Gogh und Cezanne. Es ist die Zeit der großen historischen Werke von Ranke und Mommsen, Droysen und Treitschke, Taine und Burckhardt und einer phantastischen Entwicklung der Naturwissenschaften. Es ist nicht zuletzt Napoleon und Metternich, Mazzini und Cavour, Lassalle und Bismarck, Ludendorff und Clémenceau. Es erstreckt sich von der großen französischen Revolution bis 1830 und von da bis zum ersten Weltkrieg. Es hat Schlag auf Schlag zum Heil und Unheil der Menschen die gesamte technische Zivilisation geschaffen und Erfindungen über die ganze Erde verbreitet, ohne die wir uns unser alltägliches Leben überhaupt nicht mehr vorstellen können. Wer von uns könnte leugnen, daß wir noch durchaus von diesem Jahrhundert leben und eben darum Renans Frage - es ist auch die Frage von Burckhardt, Nietzsche und Tolstoi - verstehen: »de quoi vivrat- on apres nous?« Gäbe es darauf eine Antwort nur aus dem Geiste der Zeit, so wäre das letzte, ehrliche Wort unserer, noch vor 1900 geborenen und im ersten Weltkrieg gereiften Generation die entschiedene Resignation, und zwar einer, die ohne Verdienst ist, denn die Entsagung ist leicht, wenn sich das meiste versagt. Sendai (Japan), im Frühjahr 1939

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