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Kierkegaard

Publié le 22/02/2012

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kierkegaard
Auf den letzten Seiten des Begriffs der Ironie hat Kierkegaard angedeutet, daß es die »Aufgabe der Zeit« sei, »die Resultate der Wissenschaft « - gemeint ist die Hegelsche - »in das persönliche Leben zu übersetzen«, sie sich persönlich »anzueignen«. Denn es wäre doch lächerlich, wenn jemand sein Leben lang lehrte, die »Wirklichkeit« habe absolute Bedeutung und stürbe, ohne daß sie eine andere Gültigkeit hatte als die, daß er diese Weisheit verkündet hätte. Als ein Weg zur Bewährung der Wirklichkeit sei die Negativität der Ironie zu gebrauchen, welche die »Wirklichkeit wirklich zu machen« lehrt, indem sie auf sie den gebührenden Nachdruck legt.444 Als Kierkegaard nach Abschluß seiner Dissertation die Reise nach Berlin unternahm, um Schelling zu hören, erwartete er sich von dessen positiver Philosophie einen Aufschluß über die Wirklichkeit, den er bei Hegel nicht fand. Eine Tagebuchnotiz lautet: »Ich bin so froh, Schellings zweite Vorlesung gehört zu haben — unbeschreiblich. So habe ich ja lange genug geseufzt und die Gedanken geseufzt in mir; da er das Wort, >Wirklichkeit< nannte über das Verhältnis der Philosophie zur Wirklichkeit, da hüpfte die Gedankenfrucht in mir vor Freude wie in Elisabeth. Ich erinnere fast jedes Wort, das er von diesem Augenblick an sagte. Hier kann vielleicht Klarheit kommen. Dieses eine Wort, das mich an alle meine philosophischen Leiden und Qualen erinnerte.«445 Dieser Erwartung folgte alsbald die Enttäuschung: »Meine Zeit erlaubt mir nicht, tropfenweise einzunehmen, was auf einmal zu verschlucken ich kaum den Mund auftun würde. Ich bin zu alt, um Vorlesungen zu hören, gleichwie Schelling zu alt ist, um sie zu halten. Seine ganze Lehre von Potenzen verrät die höchste Impotenz.«446 Ein Nachklang der Enttäuschung an Hegel und Schelling ist das Epigramm aus Entweder- Oder: »Wenn man die Philosophen von der Wirklichkeit reden hört, so ist das oft ebenso irreführend, wie wenn man im Schaufenster eines Trödlers auf einem Schild die Worte liest: Hier wird gerollt. Wollte man mit seiner Wäsche kommen, um sie rollen zu lassen, so wäre man angeführt. Der Schild hängt nur zum Verkauf da.«447 Von da ab zieht sich durch Kierkegaards Schriften eine mehr oder minder explizite Polemik gegen den Anspruch der Philosophie, die Wirklichkeit durch Vernunft zu begreifen. 166 Den Grund für Hegels Versagen gegenüber der Wirklichkeit sieht Kierkegaard nicht wie Marx in einer mangelhaften Konsequenz des Prinzips, sondern darin, daß Hegel überhaupt das Wesen mit der Existenz ineinssetzen will. Gerade deswegen bringt er es niemals zur Darstellung einer »wirklichen« Existenz, sondern immer nur bis zu einer idealen »Begriffsexistenz«. Denn die essentia von etwas, oder was etwas ist, betrifft das allgemeine Wesen; die existentia, oder daß etwas ist, das jeweils einzelne Dasein, meine und deine je eigene Existenz, für die es etwas Entscheidendes ist, ob sie ist oder nicht ist.448 Kierkegaards Hegelkritik geht wieder auf Kants Kritik des ontologischen Gottesbeweises zurück, um dessen Unterscheidung der Essenz von der Existenz als das »einzig redliche Denken an Existenz« zu rechtfertigen.449 Daß die Existenz das Denken vom Sein »spatiiert«, hat Hegel jedoch nicht begreifen können, weil er nicht als Mensch, sondern in der Differenz eines besonderen Talents, als Berufsdenker, dachte. Was er vom Sein begriff, war nur sein Begriff, aber nicht seine Wirklichkeit, die eine jeweils einzelne ist.450 Die Kategorie der Einzelheit ist aber nicht eine Kategorie unter andern, sondern die ausgezeichnete Bestimmung der Wirklichkeit überhaupt; denn wirklich existierend ist schon nach Aristoteles immer nur »dieses bestimmte Etwas«, das Einzelne, welches hier und jetzt da ist.451 In Hegels Lehre vom Begriff ist die Einzelheit zwar auch als das einzig Wirkliche postuliert, aber in der gleichgültigen Vermittlung mit dem Besonderen und Allgemeinen.452 Die einzelne Wirklichkeit bedeutet ihm die in sich reflektierte, besondere Bestimmtheit des Allgemeinen, der einzelne Mensch also eine besondere Bestimmtheit des allgemeinen Menschseins, dessen Wesen der Geist ist. Diese Allgemeinheit des Menschseins, das Allgemein-Menschliche, hat Kierkegaard zwar nicht verneint, aber nur vom Einzelnen aus für realisierbar gehalten, wogegen ihm das Allgemeine des Geistes (Hegel) oder der Menschheit (Marx) existenziell wesenlos schien. Kierkegaards Polemik gegen Hegels Begriff von der Wirklichkeit variiert im Grunde immer nur den einen, zentralen Gedanken, daß ein »System« des Daseins die Wirklichkeit überhaupt nicht aufnehmen kann, und daß ein »Paragraph«, der von der Wirklichkeit innerhalb des Systems handelt, ein absoluter Protest gegen es ist.453 »Überschreibt man so den letzten Abschnitt der Logik >die Wirklichkeit<, so gewinnt man damit den Vorteil, daß man den Schein erregt, als sei man in der Logik schon zu dem Höchsten, oder wenn man so will, zu dem Niedrigsten gekommen. Indessen fällt der Nachteil in die Augen: es ist weder der Logik noch der Wirklichkeit damit gedient. Nicht der 167 Wirklichkeit: denn die Zufälligkeit, welche zur Wirklichkeit wesentlich mitgehört, kann die Logik nicht passieren lassen. Der Logik nicht: denn wenn sie die Wirklichkeit gedacht hat, so hat sie etwas in sich aufgenommen, das sie sich nicht assimilieren kann; sie hat vorweggenommen, was sie bloß prädisponieren soll. Als Strafe stellt sich deutlich ein, daß jede Untersuchung, was Wirklichkeit sei, erschwert, ja vielleicht zunächst unmöglich gemacht ist, weil dem Wort zuerst Zeit gelassen werden muß, sich gleichsam auf sich selbst zu besinnen, Zeit, den Fehler zu vergessen.« 454 Das eigentliche »Zufällige« oder auch »Wunderbare«,455 das Hegel aus dem Begriff der wahren Wirklichkeit ausschließt, besteht aber darin, daß überhaupt etwas ist und daß ich überhaupt da bin.456 Gerade dies bloße Daß-Sein macht das absolute »Interesse« an der Wirklichkeit aus, wogegen die Hegelsche Abstraktion verlangt, daß man daran in der Tat interesselos ist.437 Am Interesse der Metaphysik strandet die Immanenz des Systems,458 innerhalb dessen das Sein und das Nichts gleichgültige Möglichkeiten des reinen und bloßen Denkens sind. Für den selbst Existierenden ist aber die Existenz als solche von höchstem Interesse und »die Interessiertheit am Existieren die Wirklichkeit «. »Was Wirklichkeit ist, läßt sich in der Sprache der Abstraktion nicht ausdrücken. Die Wirklichkeit ist ein inter-esse zwischen der hypothetischen Abstraktionseinheit von Denken und Sein.«459 Mit dieser Erhebung des factum brutum der Existenz zur maßgebenden Wirklichkeit überhaupt verlegt sich bei Kierkegaard das universale Problem des Seins in die Frage nach dem menschlichen Dasein, und als dessen eigentliches Problem gilt nicht, was es ist, sondern, daß es überhaupt da ist. Desgleichen fragt die von Kierkegaard herkünftige Existenzphilosophie nicht mehr nach der essentia im Unterschied zur existentia, sondern die Existenz als solche scheint ihr das einzig Wesentliche zu sein. Die Begründung der Wirklichkeit im »Interesse« ist Kierkegaard mit Feuerbach, Ruge und Marx gemein, wennschon die Art des Interesses bei Feuerbach sinnlich, bei Ruge ethisch-politisch und bei Marx praktisch- sozial bestimmt ist. Kierkegaard bezeichnet das Interesse als »Leidenschaft« oder »Pathos« und setzt es der spekulativen Vernunft entgegen.460 Das Wesen der Leidenschaft ist, daß sie im Unterschied zum abschließenden »Schluß« von Hegels System zu einem Entschluß treibt,461 der »entweder« so »oder« anders entscheidet. Eine Entscheidung im ausgezeichneten Sinn ist der Sprung, dieser »entschiedene Protest gegen den inversen Gang der Methode«, nämlich der dialek- 168 tischen Reflexion.462 Die entschlossene Leidenschaft der zum Sprung bereiten Entscheidung setzt einen unvermittelten Anfang, wogegen der Anfang der Hegelschen Logik in Wahrheit nicht mit dem »Unmittelbaren « beginnt, sondern mit dem Produkt einer äußersten Reflexion: dem reinen Sein überhaupt, unter Abstraktion vom wirklich existierenden Dasein.463 Mit diesen Existenzbestimmungen reduziert Kierkegaard das sich wissende Reich der vernünftigen Wirklichkeit auf die »einzige Wirklichkeit, von der ein Existierender nicht nur weiß«, nämlich auf die: »daß er da ist.«464 Dem welthistorischen Denken mag das als »Akosmismus« erscheinen, es ist aber dennoch der einzige Weg, um das enzyklopädisch zerstreute Wissen der Zeit auf seinen Ursprung zurückzuführen und wieder einen primären Eindruck von der Existenz zu bekommen.485 Wollte man aber daraus schließen, daß der Existierende überhaupt nicht denkt und das Wissen »lazzaronihaft « angreift, so wäre das ein Mißverständnis. Er denkt nur umgekehrt alles in bezug auf sich selbst, aus Interesse am sich selbst verstehenden Daseins, welches zwar teilhat an der Idee, aber nicht selbst als Idee ist.466 In Griechenland war die Aufgabe, die Abstraktion des Seins zu erreichen, jetzt liegt die Schwierigkeit umgekehrt darin, auf der Höhe der Hegelschen Abstraktion wieder die Existenz zu gewinnen. Sich selbst in Existenz zu verstehen war schon das griechische Prinzip und noch mehr das christliche, aber seit dem Sieg des »Systems« liebt, glaubt und handelt man nicht mehr selbst, man will nur wissen, was all dies ist. Kierkegaards polemischer Begriff von der wirklichen Existenz ist nicht nur gegen Hegel gerichtet, sondern zugleich ein Korrektiv gegen die Forderungen der Zeit. Die auf sich selbst vereinzelte Existenz ist 1. die ausgezeichnete und einzige Wirklichkeit gegenüber dem System, das alles in gleicher Weise umgreift und den Unterschied (zwischen dem Sein und dem Nichts, dem Denken und Sein, der Allgemeinheit und Einzelheit) einebnet auf die Ebene eines gleichgültigen Seins. Sie ist 2. des Einzelnen Wirklichkeit gegenüber der geschichtlichen Allgemeinheit (der Weltgeschichte und Generation, der Menge, des Publikums und der Zeit), der das Individuum als solches nichts gilt. Sie ist 3. die innerliche Existenz des Einzelnen gegenüber der Äußerlichkeit der Verhältnisse. Sie ist 4. eine christliche Existenz vor Gott gegenüber der Veräußerlichung des Christseins in der weltgeschichtlich verbreiteten Christenheit. Und sie ist 5. inmitten dieser Bestimmungen vor allem eine sich selbst entscheidende Existenz, entweder für oder gegen das Christsein. Als eine sich so oder so entscheidende Existenz 169 ist sie der Gegensatz zur »verständigen« Zeit und zu Hegels Begreifen, die ein Entweder-Oder nicht kennen.467 Kurz vor der Revolution von 1848 haben Marx und Kierkegaard dem Willen zu einer Entscheidung eine Sprache verliehen, deren Worte auch jetzt noch ihren Anspruch erheben: Marx im Kommunistischen Manifest (1847) und Kierkegaard in einer »Literarischen Anmeldung « (1846). Das eine Manifest schließt: »Proletarier aller Länder vereinigt euch« und das andere damit, daß jeder für sich an seiner eigenen Rettung arbeiten solle, dagegen sei die Prophetie über den Fortgang der Welt höchstens als Scherz erträglich. Dieser Gegensatz bedeutet aber geschichtlich betrachtet nur zwei Seiten einer gemeinsamen Destruktion der bürgerlich-christlichen Welt. Zur Revolution der bürgerlidi-kapitalistiscben Welt hat sich Marx auf die Masse des Proletariats gestützt, während Kierkegaard in seinem Kampf gegen die bürgerlidi-christliche Welt alles auf den Einzelnen setzt. Dem entspricht, daß für Marx die bürgerliche Gesellschaft eine Gesellschaft von »vereinzelten Einzelnen« ist, in welcher der Mensch seinem »Gattungswesen « entfremdet ist, und für Kierkegaard die Christenheit ein massenhaft verbreitetes Christentum, in dem niemand ein Nachfolger Christi ist. Weil aber Hegel diese existierenden Widersprüche im Wesen vermittelt hat: die bürgerliche Gesellschaft mit dem Staat und den Staat mit dem Christentum, zielt die Entscheidung von Marx wie von Kierkegaard auf die Hervorhebung des Unterschieds und des Widerspruchs in eben jenen Vermittlungen. Marx richtet sich auf die Selbstentfremdung, die für den Menschen der Kapitalismus ist, und Kierkegaard auf diejenige, die für den Christen die Christenheit ist.

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