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Das Ende der von Goethe und Hegel vollendeten Welt

Publié le 22/02/2012

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Goethe äußerte sich 1829 zu dem Polen Odynic in einem Gespräch über die Lage Europas, daß das 19. Jahrhundert »nicht einfach die Fortsetzung der früheren sei, sondern zum Anfang einer neuen Ära bestimmt scheine. Denn solche große Begebenheiten, wie sie die Welt in seinen ersten Jahren erschütterten, könnten nicht ohne große, ihnen entsprechende Folgen bleiben, wenngleich diese, wie das Getreide aus der Saat, langsam wachsen und reifen«.64 Goethe erwartete sie nicht früher als im Herbst des Jahrhunderts. Die nächste Folge war die Julirevolution von 1830, welche ganz Europa erschütterte und allen Zeitgenossen zu denken gab. Immermann meinte, man könne sie nicht aus einer physischen Not erklären, sondern nur aus einem geistigen Drang und einer Begeisterung, ähnlich einer religiösen Bewegung, wenngleich das Agens statt des Glaubens »das Politische« sei. Nüchterner hat sie L. von Stein als den großen Akt beurteilt, durch den die industrielle Gesellschaft zur Herrschaft kam. Die sozialen Wahrheiten, denen sie Geltung verschaffte, seien allgemein europäische und der 40 Zweifel, der sich an den Sieg der bürgerlichen Klasse knüpfe, betreffe die Zivilisation überhaupt. Als epochal empfand vor allem Niebuhr den Umsturz. Seine tief resignierte Vorrede zur 2. Auflage des zweiten Teiles der Römischen Geschichte vom 5. Oktober 1830 sieht »jedes erfreuliche Verhältnis« durch eine Zerstörung bedroht, wie die römische Welt sie um das dritte Jahrhundert erfuhr: Vernichtung des Wohlstands, der Freiheit, der Bildung, der Wissenschaft. Und Goethe gab ihm Recht, wenn er eine künftige Barbarei prophezeite; sie sei sogar schon da, »wir sind schon mitten darinne«.65 Die symptomatische Bedeutung der Julirevolution war, daß sie zeigte, daß sich der Abgrund der großen Französischen Revolution nur scheinbar geschlossen hatte und man sich in Wirklichkeit erst am Anfang eines ganzen »Zeitalters von Revolutionen« befand, in dem die Masse gegenüber den Ständen eine eigene politische Macht gewann.66 Der Kanzler Müller berichtet von einem Gespräch mit Goethe, worin dieser geäußert hat, er könne sich über die neue Krisis nur dadurch beruhigen, daß er sie für »die größte Denkübung« ansehe, die ihm am Schluß seines Lebens habe werden können.67 Einige Monate später schreibt Goethe an Zelter, es komme ihm wundersam vor, daß sich nach vierzig Jahren der alte Taumel wieder erneuere. Alle Klugheit der noch bestehenden Mächte liege darin, daß sie die einzelnen Paroxysmen unschädlich machen. »Kommen wir darüber hinaus, so ists wieder auf eine Weile ruhig. Mehr sag ich nicht.« 68 Ungehöriger als je schien ihm in dieser Revolution ein »unvermitteltes Streben ins Unbedingte « zu wollen — »in dieser durchaus bedingten Welt.« 69 Er selber rettete sich in das Studium der Natur, welche inmitten aller Veränderungen beständig bleibt. Als ihm Eckermann die ersten Nachrichten von der Revolution überbringen wollte, rief ihm Goethe entgegen: »Nun, was denken Sie von dieser großen Begebenheit? Der Vulkan ist zum Ausbruch gekommen, alles steht in Flammen und es ist nicht ferner eine Verhandlung bei geschlossenen Türen.« Mit dieser Begebenheit meinte er aber zum Erstaunen Eckermanns nicht die politischen Ereignisse, sondern eine Diskussion in der Akademie von Paris, welche die Methode der Naturforschung anging.70 Daß die Welt um 1830 infolge der demokratischen Nivellierung und Industrialisierung anders zu werden begann, hat Goethe deutlich erkannt. Er sagte am 23. Oktober 1828 zu Eckermann über die Menschheit: »Ich sehe die Zeit kommen, wo Gott keine Freude mehr an ihr hat und er abermals alles zusammenschlagen muß zu einer verjüngten Schöpfung.« Der Boden der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Gesel- 41 ligkeit schien ihm zerstört und als den geistvollen Entwurf einer radikalen Vernichtung der bestehenden Ordnung beachtete er die Schriften von Saint-Simon. Was ihm an moderner Literatur aus Frankreich zukam, erkannte er als eine »Literatur der Verzweiflung«, welche dem Leser das Entgegengesetzte von all dem aufdränge, was man dem Menschen zu einigem Heil vortragen sollte.71 »Das Häßliche, das Abscheuliche, das Grausame, das Nichtswürdige mit der ganzen Sippschaft des Verworfenen ins Unmögliche zu überbieten, ist ihr satanisches Geschäft.« Alles sei jetzt »ultra« und »transzendiere« im Denken wie im Tun. »Niemand kennt sich mehr, niemand begreift das Element, worin er schwebt und wirkt, niemand den Stoff, den er bearbeitet. Von reiner Einfalt kann die Rede nicht sein; einfältiges Zeug gibt es genug.« Die moderne Menschheit überbiete und überbilde sich, um in der Mittelmäßigkeit zu verharren, sie werde extremer und gemeiner. 72 Das letzte Dokument seiner Einsicht in die Bewegung der Zeit ist ein Brief an W. von Humboldt, worin er seine Versiegelung des zweiten Teiles des Faust folgendermaßen begründet: »Ganz ohne Frage würde es mir unendliche Freude machen, meinen werten, durchaus dankbar anerkannten, weitverteilten Freunden auch bei Lebzeiten diese sehr ernsten Scherze zu widmen, mitzuteilen und ihre Erwiderung zu vernehmen. Der Tag aber ist wirklich so absurd und konfus, daß ich mich überzeuge, meine redlichen, langverfolgten Bemühungen um dieses seltsame Gebäu würden schlecht belohnt und an den Strand getrieben, wie ein Wrack in Trümmern daliegen und von dem Dünenschutt der Stunden zunächst überschüttet werden. Verwirrende Lehre zu verwirrtem Handel waltet über die Welt, und ich habe nichts angelegentlicher zu tun, als dasjenige, was an mir ist und geblieben ist, womöglich zu steigern und meine Eigentümlichkeiten zu kohobieren, wie Sie es, würdiger Freund, auf Ihrer Burg ja auch bewerkstelligen.« Mit diesen Worten voll wunderbarer Entschiedenheit und Gelassenheit endet, fünf Tage vor seinem Tode, Goethes Korrespondenz. Nicht minder als Goethe wurde Hegel durch die Julirevolution irritiert. Mit Empörung und Schrecken bemerkte er den Einbruch neuer Entzweiungen, gegen die er nun das Bestehende wie einen wahren Bestand verteidigte. In seiner letzten politischen Schrift von 1831, zur Kritik der englischen Reformbill, charakterisierte er schon den Willen zu einer Reform als ein »Nichtgehorchen« aus dem »Mut von unten«. Angegriffen vom Vorwurf der Servilität gegenüber Kirche und Staat, schrieb er am 13. XII. 1830 an Goeschel: »Doch hat gegenwärtig das ungeheure politische Interesse alle andern verschlungen, - eine Krise, 42 in der Alles, was sonst gegolten, problematisch gemacht zu werden scheint. So wenig sich die Philosophie der Unwissenheit, der Gewalttätigkeit und den bösen Leidenschaften dieses lauten Lärms entgegenstellen kann, so glaube ich kaum, daß sie in jene Kreise, die sich so bequem gebettet, eindringen könne; sie darf es sich - auch zum Behuf der Beruhigung - bewußt werden, daß sie nur für Wenige sei.« Und in der Vorrede zur 2. Auflage der Logik spricht er am Schluß die Befürchtung aus, ob in einer politisch so aufgeregten Zeit überhaupt noch Raum sei für die »leidenschaftslose Stille der nur denkenden Erkenntnis «. Wenige Tage nach dem Abschluß der Vorrede erkrankte er an der Cholera und starb. Während Goethe und Hegel in der gemeinsamen Abwehr des »Transzendierenden « noch eine Welt zu gründen vermochten, worin der Mensch bei sich sein kann, haben schon ihre nächsten Schüler sich nicht mehr in ihr zu Hause gefunden und das Gleichgewicht ihrer Meister als das Produkt einer bloßen Harmonisierung verkannt.73 — Die Mitte, aus der Goethes Natur heraus lebte, und die Vermittlung, in der Hegels Geist sich bewegte, sie haben sich bei Marx und Kierkegaardli wieder in die beiden Extreme der Äußerlichkeit und der Innerlichkeit auseinandergesetzt, bis schließlich Nietzsche, durch ein neues Beginnen, aus dem Nichts der Modernität die Antike zurückholen wollte und bei diesem Experiment im Dunkel des Irrsinns verschwand.

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