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Nietzsches Beurteilung von Goethe und Hegel

Publié le 22/02/2012

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Nietzsche hat gemäß seinem Willen zu einer Entscheidung zwischen Antike und Christentum in Hegel einen hinterhältigen Theologen und in Goethe einen aufrichtigen Heiden gesehen. Zugleich hatte er aber auch ein Bewußtsein von der Verwandtschaft ihres Geistes und ihrer Gesinnung. »Die Denkweise Hegels ist von der Goetheschen nicht sehr entfernt: man höre Goethe über Spinoza. Wille zur Vergöttlichung des Alls und des Lebens, um in seinem Anschauen und Ergründen Ruhe und Glück zu finden; Hegel sucht Vernunft überall, vor der Vernunft darf man sich ergeben und bescheiden. Bei Goethe eine Art von fast freudigem und vertrauendem Fatalismus, der nicht revoltiert, der nicht ermattet, der aus sich eine Totalität zu bilden sucht, im Glauben, daß erst in der Totalität alles sich erlöst, als gut und gerechtfertigt erscheint.« 540 Zusammen mit Napoleon bedeuten ihm Hegel 195 und Goethe ein gesamteuropäisches Ereignis und einenVersuch,das18. Jahrhundert zu überwinden.341 Das Bild, welches sich Nietzsche von Goethe machte, entbehrte zunächst nicht der kritischen Vorbehalte, die aber immer mehr in den Hintergrund traten. In der 3. Unzeitgemäßen Betrachtung stellt er nach einer Charakteristik des 19. Jahrhunderts die Frage: wer wird in einer solchen Zeit des Einsturzes und der Explosionen noch das »Bild des Menschen« bewahren? Drei Bilder haben die Humanität der neueren Zeit bestimmt: der Mensch Rousseaus, der Mensch Goethes und der Mensch Schopenhauers, in dessen »heroischen Lebenslauf« sich Nietzsche selber hineindeutet. Von Rousseau ist eine populäre Kraft ausgegangen, die zu Revolutionen drängte; Goethe ist keine so bedrohliche Macht, er ist beschauend und organisierend, aber nicht revolutionär umstürzend. »Er haßt jedes Gewaltsame, jeden Sprung, das heißt aber: jede Tat; und so wird aus dem Weltbefreier Faust gleichsam nur ein Weltreisender. Alle Reiche des Lebens und der Natur, alle Vergangenheiten, Künste, Mythologien, alle Wissenschaften sehen den unersättlichen Beschauer an sich vorüberfliegen, das tiefste Begehren wird aufgeregt und beschwichtigt, selbst Helena hält ihn nicht länger - und nun muß der Augenblick kommen, auf den sein höhnischer Begleiter lauert. An einer beliebigen Stelle der Erde endet der Flug, die Schwingen fallen herab, Mephistopheles ist bei der Hand. Wenn der Deutsche aufhört, Faust zu sein, ist keine Gefahr größer als die, daß er ein Philister werde und dem Teufel verfalle — nur himmlische Mächte können ihn hiervon erlösen. Der Mensch Goethes ist... der beschauliche Mensch im hohen Stile, der nur dadurch auf der Erde nicht verschmachtet, daß er alles Große und Denkwürdige... zu seiner Ernährung zusammenbringt und so lebt, ob es auch nur ein Leben von Begierde zu Begierde ist; er ist nicht der tätige Mensch: vielmehr, wenn er an irgendeiner Stelle sich in die bestehenden Ordnungen der Tätigen einfügt, so kann man sicher sein, daß nichts Rechtes dabei herauskommt ..., vor allem, daß keine >Ordnung< umgeworfen wird. Der Goethesche Mensch ist eine erhaltende und verträgliche Kraft..., wie der Mensch Rousseaus leicht zum Catilinarier werden kann.«542 In ähnlicher Weise wird auch in der Betrachtung über Wagner gesagt, Goethe sei zwar ein großer Lernender und Wissender gewesen, aber sein vielverzweigtes Stromnetz scheine seine Kräfte nicht gesammelt zum Meere zu tragen, sondern mindestens ebensoviel auf seinen Wegen und Krümmungen zu verlieren. Es liege etwas Edel-Verschwenderisches in Goethes Wesen, während Wagners (d. i. Nietzsches) Lauf 196 und Stromgewalt vielleicht erschrecken und abschrecken könne.543 Als Nietzsche aber später selbst im Zarathustra eine Art von Vollendung erreichte, ließ er seinen jugendlichen Vorbehalt schweigen, um die Goethesche Existenz um so entschiedener anzuerkennen. Denn nicht Goethes Schuld sei es gewesen, wenn sich die deutsche Bildung auf der Schiller-Goetheschen Basis wie auf einem Ruhebett niederließ.544 Der reife Nietzsche begriff, warum Goethe, der weder »ein Schriftsteller noch ein Deutscher von Beruf« sein wollte, niemals wie Schiller populär werden konnte, sondern trotz seines Ruhmes vereinsamt blieb und genötigt war, sich gegenüber seinen Verehrern zu verschanzen und zu maskieren.545 »Er gehört in eine höhere Gattung von Literaturen, als >National-Literaturen< sind: deshalb steht er auch zu seiner Nation weder im Verhältnis des Lebens, noch des Neuseins, noch des Veraltens. Nur für Wenige hat er gelebt und lebt er noch: für die meisten ist er nichts als eine Fanfare der Eitelkeit, welche man von Zeit zu Zeit über die deutsche Grenze hinüberbläst. Goethe, nicht nur ein guter und großer Mensch, sondern eine Kultur, Goethe ist in der Geschichte der Deutschen ein Zwischenfall ohne Folgen: wer wäre im Stande, in der deutschen Politik der letzten 70 Jahre zum Beispiel ein Stück Goethe aufzuzeigen! (während jedenfalls darin ein Stück Schiller und vielleicht sogar ein Stückchen Lessing tätig gewesen ist).« 546 Goethe — heißt es an anderer Stelle — hat über die Deutschen hinweg gedichtet, weil er in jeder Beziehung hoch über ihnen stand. »Wie könnte auch je ein Volk der Goetheschen Geistigkeit im Wohlsein und Wohlwollen gewachsen sein.« 547 Es folgte ihm nur eine sehr kleine Schar »Höchstgebildeter, durch Altertum, Leben und Reisen Erzogener, über deutsches Wesen Hinausgewachsener: er selber wollte es nicht anders«. Weit entfernt vom »Idealismus« sah er diesem Treiben der deutschen Bildung in seiner Art zu: »daneben stehend, mild widerstrebend, schweigsam, sich auf seinem eigenen besseren Wege immer mehr bestärkend «, während das Ausland glaubte, die Deutschen hätten »in aller Stille eine Ecke des Himmels entdeckt«, als diese selbst bereits anfingen, ihre idealistische Bildung mit industriellen, politischen und militärischen Unternehmungen zu vertauschen.548 Was Goethe so hoch über alle kleineren Geister hinaushob, war, daß er die Freiheit nicht nur wollte, sondern in ihrem vollen Besitz war. Von dieser erreichten Freiheit aus konnte er sichs erlauben, selbst das ihm Widerliche zu fördern und ein Fürsprecher des Lebens im Ganzen zu sein, seiner scheinbaren Wahrheit und seines wahren Scheins. »Goethe war, inmitten eines unreal gesinnten Zeitalters, ein überzeugter 197 Realist: er sagte Ja zu Allem, was ihm hierin verwandt war, er hatte kein größeres Erlebnis, als jenes ens realissimum, genannt Napoleon. Goethe konzipierte einen starken, hochgebildeten, in allen Leiblichkeiten geschickten, sich selbst im Zaume habenden, vor sich selber ehrfürchtigen Menschen, der sich den ganzen Umfang und Reichtum der Natürlichkeit zu gönnen wagen darf, der stark genug zu dieser Freiheit ist; den Menschen der Toleranz, nicht aus Schwäche, sondern aus Stärke, weil er das, woran die durchschnittliche Natur zu Grunde gehen würde, noch zu seinem Vorteil zu brauchen weiß; den Menschen, für den es nichts Verbotenes mehr gibt, es sei denn die Schwäche, heiße sie nun Laster oder Tugend. Ein solcher freigewordener Geist steht mit einem freudigen und vertrauenden Fatalismus mitten im All, im Glauben, daß nur das Einzelne verwerflich ist, daß im Ganzen sich alles erlöst und bejaht — er verneint nicht mehr.«549 Das ist aber zugleich die Formel für Nietzsches »dionysische Stellung zum Dasein« und in der Tat scheint der letzte Aphorismus des Willens zur Macht aus dem-- selben Geist zu stammen wie Goethes Fragment über die Natur. Dennoch ist Nietzsches Wille zur Macht von Goethes Natur so verschieden wie das Extreme vom Maßvollen, die gärende Macht vom geordneten Kosmos, das Wollen vom Können und die vernichtende Schärfe des Angriffs von der wohlwollenden Ironie.550 Dieser Unterschied äußert sich besonders deutlich in ihrer Stellung zum Christentum. Nietzsche bemerkt zwar einmal, man müsse das »Kreuz« so wie Goethe empfinden,551 aber er selbst empfand es ganz anders: er wollte die Menschen statt des Leidens das Lachen lehren und sprach sein Gelächter heilig. Zarathustra verhöhnt die Dornenkrone von Christus, indem er sich selbst mit einer aus Rosen krönt.552 Diese Rosen haben weder eine humane noch eine vernünftige Beziehung zum Kreuz; Zarathustras »Rosenkranz-Krone« ist rein polemisch gegenüber der des Gekreuzigten. Bis zu dieser Verkehrung hat sich das von Luther herkommende Sinnbild der Rosenkreuzer gewandelt! Goethe war kein Anti-Christ und eben darum der echtere Heide; sein »Gott« hatte es nicht nötig, gegen einen andern zu sein, weil er überhaupt seiner positiven Natur nach jedem Verneinen abgeneigt war. Daß aber seine vollkommen reif gewordene Freiheit in der deutschen Kultur ohne Folgen blieb, ist ebenso verhängnisvoll wie verständlich. »Die... Deutschen glauben nur Geist zu haben, wenn sie paradox, d. h. ungerecht sind.«553 Sie glauben zwar an Ideen, sie schauen aber nicht Phänomene554, und darum ist ihre »Weltanschauung« eine ideologische Konstruktion. Dieser Mangel an einer reinen Anschauung der Welt 198 hat im 19. Jahrhundert die Schüler von Hegel - über Goethe hinweg - zur Herrschaft gebracht und sie zu den »eigentlichen Erziehern der Deutschen dieses Jahrhunderts« 555 gemacht. Eine solche Idee aus Hegels Philosophie war die der »Entwicklung« oder des »Werdens«. »Wir Deutsche sind Hegelianer, auch wenn es nie einen Hegel gegeben hätte, insofern wir (im Gegensatz zu allen Lateinern) dem Werden, der Entwicklung instinktiv einen tieferen Sinn und reicheren Wert zumessen als dem, was >ist<.«556 Der Deutsche ist auch insofern von Hause aus Hegelianer, als er sich nicht am Unmittelbaren der Phänomene genug sein läßt, sondern »den Augenschein umdreht« und kaum an die Berechtigung des Begriffes »Sein« glaubt. In dieser Hinsicht, bemerkt Nietzsche, waren auch Leibniz und Kant »Hegelianer«. Die deutsche Philosophie glaubt eher als an die Regel der Logik an das »credo quia absurdum«, mit dem die deutsche Logik schon in der Geschichte des christlichen Dogmas auftritt. »Aber auch heute noch, ein Jahrtausend später, wittern wir Deutsche von heute ... etwas von Wahrheit, von Möglichkeit der Wahrheit, hinter dem berühmten realdialektischen Grundsatze, mit welchem Hegel seinerzeit dem deutschen Geiste zum Sieg über Europa verhalf -, >der Widerspruch bewegt die Welt, alle Dinge sind sich selbst widersprechend< - wir sind eben, sogar bis in die Logik hinein, Pessimisten.« 557 Und indem Nietzsche sein eigenes Paradox von der ewigen Wiederkunft aus der Selbstaufhebung des Nihilismus entwarf, hat er die Logik des Widerspruchs bewußtermaßen noch einen Schritt weitergeführt und abermals ein credo aus dem absurdum entwickelt.558 Doch unterscheidet sich Nietzsches pessimistische Logik durch seine radikale Kritik der christlichen Moral und Theologie, deren Herrschaft er auch in Hegels Philosophie der Geschichte erkannte.559 Mit dieser hinterlistigen Theologie habe sich Hegel die große Initiative verdorben, welche darin bestand, daß er bereits auf dem Weg war, auch das Negative - den Irrtum und das Böse - in den Gesamtcharakter des Seins einzubeziehen. »Gemäß dem grandiosen Versuch, den er machte, uns zur Göttlichkeit des Daseins zu allerletzt noch mit Hilfe unseres sechsten Sinnes, des >historischen Sinnes< zu überreden«, wurde er zu dem großen Verzögerer in der Befreiung vom Christentum und seiner Moral.560 Dieser philosophische Historismus habe die gefährlichste Einwirkung auf die deutsche Bildung gehabt, denn »furchtbar und zerstörend« müsse es sein, wenn ein solcher Glaube an den Sinn der Geschichte zum Götzendienst des Tatsächlichen führe. »Enthält jeder Erfolg in sich eine vernünftige Notwendigkeit, ist jedes 199 Ereignis der Sieg ... der >Idee< - dann nur hurtig nieder auf die Kniee und die ganze Stufenleiter der >Erfolge< abgekniet.«561 Hegel hat für die Folgezeit die Historie als Glauben an den Sinn der Geschichte zum Ersatz der Religion gemacht.562 Gerade dieser Historismus, welcher aus Hegels Metaphysik der Geschichte des Geistes entsprang, ist aber zukunflvoller geworden als die unhistorische Weltanschauung von Goethe, der die Entwicklungs- und Lebensformen der Menschheit aus der Anschauung der Natur entnahm.

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