Die Erneuerung der Hegelschen
Publié le 22/02/2012
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Philosophie durch die Neuhegelianer
Das Prinzip der Erneuerung Hegels ist zuerst und am deutlichsten von
von B. Croce festgelegt worden, durch die Unterscheidung eines »toten
« und »lebendigen« Teiles der Hegelschen Philosophie.353 Als tot
gilt vor allem die Naturphilosophie, aber auch die Logik und Religionsphilosophie;
als lebendig die Wissenschaft vom objektiven Geiste,
soweit sich ihr absolut-systematischer Anspruch in einen geschichtlichen
auflösen läßt. Diese Verteilung, welche Hegels System im ganzen
verneint, gilt auch für die deutsche Erneuerung Hegels. Während aber
in Italien die Überlieferung der Hegeischen Philosophie ohne Bruch
vor sich ging, weil die in ihr beschlossenen Fragen auch nie überspitzt
worden waren, bedurfte es in Deutschland einer gewollten Erneuerung
entgegen der allgemeinen Mißachtung, in welche Hegel verfallen
war. - Schopenhauers Prophezeiung,354 daß die Periode von Hegels
Ruhm ein bleibender Schandfleck der Nation und der Spott des
Jahrhunderts sein würde, ist durch den Neuhegelianismus zuschanden
geworden: Schopenhauer blieb nur in der Vermittlung Nietzsches
bekannt, und Hegel schien am Beginn des 20. Jahrhunderts wider
Erwarten aufzustehen. Nachdem die Logik achtzig Jahre lang nicht
mehr neu aufgelegt worden war, erschienen zwei neue Gesamtaus-
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gaben, die Veröffentlichung des Nachlasses, ein Kommentar seiner
Jugendschriften, ein Hegellexikon und eine bereits unübersehbar
gewordene Literatur über Hegel.355 Der neue Hegelianismus ist sich
selbst schon historisch geworden und reflektiert seine Wandlungen,356
ein Hegel-Bund und Hegel-Kongresse demonstrieren das Studium
Hegels. Zur Frage steht aber nicht die äußere Tatsache dieser Wiederbelebung,
sondern ob und wie die gegenwärtige Zeit die schon von
den ursprünglichen Hegelianern aufgeworfene Frage nach der Geschichtlichkeit
und überhaupt nach der Zeit zu beantworten weiß.
In hervorragender Weise hat Dilthey das historische Bewußtsein als
Problem der Philosophie und des Geistes verstanden. Die Verarbeitung
von Hegels Philosophie des geschichtlichen Geistes ist dabei von
entscheidender Bedeutung gewesen, und zwar sowohl für die »Einleitung
in die Geisteswissenschaften« (1883), die eine Kritik der
»historischen« Vernunft sein wollte, wie für die späteren Abhandlungen
zum Aufbau der geschichtlichen Welt. Mehr als alle übrigen
Neuhegelianer zusammen hat Dilthey durch seine Jugendgeschichte
Hegels (1905) und seine historisch-systematischen Arbeiten Hegels
geschichtliche Denkweise neu belebt und für die Gegenwart fruchtbar
gemacht. Seine Auseinandersetzung mit Hegel reicht zurück bis in die
60er Jahre - in denen auch Stirlings »The Secret of Hegel« erschien -
und sie erstreckt sich bis in die letzten Jahre seines forschenden Lebens.
Eine Art Mittelpunkt stellt um 1900 die Rezension von K. Fischers
Hegelwerk dar.
Der kritische Maßstab für Diltheys Unterscheidung des Bleibenden
und Vergänglichen in Hegels Philosophie ist, wie schon bei Haym,
die Geschichtlichkeit. Als der Widersinn in Hegels Philosophie gilt
ihm der Widerspruch zwischen dem historischen Bewußtsein von der
Relativität jeder geschichtlichen Wirklichkeit und dem metaphysischen
Abschluß des Systems.357 Die geschlossene Form des absoluten Systems
sei unvereinbar mit dem »großen, zukunftsvollen Gedanken der Entwicklung
« und den »Tatsachen«, auf die er sich stützt. »Wie kann
doch dieser Anspruch festgehalten werden inmitten des unermeßlichen
Systems von Welten, der Mannigfaltigkeit der Entwicklungen, die auf
ihnen sich vollziehen, der grenzenlosen Zukunft, die in dem Schoß
dieses Universums verborgen ist, das zu immer neuen Bildungen fortschreitet!
« 358 Im Unterschied zu Fischers evolutionistischer Deutung
ist sich aber Dilthey darüber klar, daß der Entwicklungsgedanke des
19. Jahrhunderts nicht der von Hegel ist, sondern ihm widerspricht.
359 Hegels abschließende Konstruktion der Natur und des
139
Geistes in der logischen Form des Schlusses setzt eine Welt voraus, die
nicht mehr die unsere ist. »Soll der Geist zur absoluten Erkenntnis
auf dieser Erde gelangen, dann muß sie -wieder zum Mittelpunkt der
Welt werden; und in der Tat ist Hegels ganze Naturphilosophie konstruiert
unter diesem Gesichtspunkt. Die geistige Entwicklung auf der
Erde muß im Prinzip in der Entdeckung der absoluten Philosophie
ihren Abschluß finden, und Hegels ganze Weltgeschichte und Geschichte
der Philosophie ist unter diesem Gesichtspunkt konstruiert.«360
Die »Torheit« eines solchen Anspruchs steht für Dilthey außerhalb
jeden Zweifels, weil sich seine Vorstellung von der »Wirklichkeit«
unserer Welt an den entdeckten »Tatsachen« der positiven Wissenschaften
bemißt und nicht, wie bei Hegel, am philosophischen Begriff.
381 »Durch alle Schriften Hegels zieht sich der vergebliche Streit
gegen die Wissenschaften der Natur, des Menschen und der Geschichte.
« 362 Dieser Hinweis auf Hegels polemische Stellung zu dem
Verfahren der positiven Wissenschaften ist um so mehr zu beachten,
als Dilthey damit zugleich die Bodenlosigkeit einer Erneuerung Hegels
anzeigt, die sich über die Unvereinbarkeit des modernen wissenschaftlichen
Bewußtseins mit Hegels spekulativer »Wissenschaft« hinwegtäuscht,
und vergessen zu haben scheint, daß Hegel die Wissenschaften
als »Gebäude eines von der Vernunft verlassenen Verstandes« bezeichnete,
deren flache Expansion unerträglich sei.363 Wenn aber die Hegelsche
Philosophie die einzige wahre »Wissenschaft« ist, dann ist sie
notwendig auch geschieden von Diltheys Weltanschauungslehre, die
sich als bloßen »Ausdruck« metaphysischer »Bedürfnisse« weiß. Zufolge
dieser grundsätzlichen Differenz in der Beurteilung und Bewertung
der Wissenschaft und der Wirklichkeit steht für Dilthey Hegels
Bestreben, die Totalität der geistigen Welt geschichtlich »aus sich
selbst« zu begreifen, im Widerspruch zu dem Erklärungsprinzip des
absoluten Geistes. Hegel unterstelle der »realen« geschichtlichen Welt
des menschlichen Geistes ein ideelles Reich von »logischen« Bestimmungen,
die als zeitlose unfähig sind, eine wirkliche Entwicklung im
Raum und in der Zeit zu erklären. An dieser Verflechtung eines
»chimärischen« Begriffs von einer nicht durch die Zeit bestimmten
Entwicklung mit der zeitlich-realen sei Hegels Philosophie im 19. Jahrhundert
gescheitert. Desgleichen sei der Versuch, die falsch gestellte
Aufgabe mittels der Dialektik zu lösen, gänzlich unbrauchbar und zu
verwerfen.364 Um sie richtig zu stellen und lösbar zu machen, reduziert
Dilthey Hegels spekulatives »Begreifen« des Begriffs der Wirklichkeit
auf ein analytisches »Verstehen« ihrer allgemeinsten Struk-
140
turen. Der »Logos« des Seienden verwandelt sich so in eine relative
»Bedeutung« und Hegels Ontologie in eine weltanschauliche Analyse
der Wirklichkeit.365 Als das Bleibende der Hegelschen Metaphysik
bleiben nur die »historischen Intentionen« bestehen, unter Abzug von
ihrem metaphysisch-theologischen Fundament, welches gerade der
endliche Teil des Systems sei. Hegels dauernde Bedeutung liege darin,
daß er gelehrt habe, das Wesen einer jeden Lebenserscheinung geschichtlich
zu verstehen.366
Als der Zeitgeschichte verfallen gilt Dilthey außer der Logik und der
Naturphilosophie auch die Religionsphilosophie: die These von der
Absolutheit der christlichen Religion, die aber für Hegels geschichtliche
Konstruktion des Geistes so zentral ist wie für seine Naturphilosophie
die zentrale Stellung der Erde im Universum. Das »Unvergängliche
in ihm« sei vielmehr die Erkenntnis der historischen Relation auch
aller religiösen und sittlichen Wahrheiten. »Alles ist relativ, unbedingt
ist allein die Natur des Geistes selbst, die sich in diesem allen manifestiert.
Und auch für die Erkenntnis dieser Natur des Geistes gibt es
kein Ende, keine letzte Fassung, jede ist relativ, jede hat genug getan,
wenn sie ihrer Zeit genug tat. Diese große Lehre, als deren mächtige
Konsequenz im Verlauf die Relativität des Eigentumbegriffs die
soziale Ordnung revolutionierte, führte folgerichtig auch zur Relativität
der Lehre Christi.« 367 Mit dieser Verwandlung des Absoluten in
die Geschichte, die — weil sie alles relativiert — nun selbst den Charakter
des Absoluten gewinnt, erneuert Dilthey aber nicht Hegel, sondern
die Hegelauffassung von Ruge und Haym, deren Kritik schon sämtliche
Motive seiner Befassung mit Hegel vorwegnimmt. Im Unterschied
zum Radikalismus der Junghegelianer ist aber Diltheys Verzeitlichung
von Hegels Metaphysik ohne revolutionäre Tendenz. Was
er mitteilen wollte, war zuletzt nur eine philosophische »Stimmung«,
wie sie ihm »aus dem Sinnen über die Konsequenz des historischen
Bewußtseins« erwachsen war. Das metaphysische Pathos von Hegels
die Tiefen des Universums aufschließendem Geiste mildert sich bei
ihm zu einer »Besinnung«, welche weiß, daß die herrschende »Anarchie
in allen tieferen Überzeugungen« S68 weder durch die Erneuerung
einer alten, noch durch die Konstruktion einer neuen Metaphysik zu
beseitigen ist. Hegels geistvolle Welt wird zur »gesellschaftlich-geschichtlichen
Wirklichkeit«, die als solche weder vernünftig ist noch
das Gegenteil, sondern in unbestimmter Weise »bedeutsam«. Die
Bedeutsamkeit der Welt ist aber auch nicht mehr in ihr selber begründet,
sondern das Produkt unseres Weltverhaltens und Weltver-
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Stehens, denn »wir« tragen keinen Sinn von der Welt in das Leben,
im Gegenteil: »wir sind der Möglichkeit offen, daß Sinn und Bedeutung
erst im Menschen und seiner Geschichte entstehen.« Die großen
»objektiven Mächte der Menschheitsgeschichte« — der objektive Geist
der Hegelschen Philosophie - sind die Substanz, woran sich das Individuum
halten müsse, wenn es das menschliche Leben ohne dogmatische
Theologie und Metaphysik aus sich selber verstehen können
soll. Daß diese Antwort auf das Problem der Geschichtlichkeit keine
eigentlich philosophische ist, daß überhaupt Diltheys lebenslanges
Bemühen um den Aufbau einer Philosophie aus dem historischen
Bewußtsein als solchem an der Redlichkeit seines Wissens gescheitert
ist, darf jedoch nicht verkennen lassen, daß er gerade infolge seiner Preisgabe
der Hegelschen Position sein einziger produktiver Erneuerer ist.
Offiziell proklamiert wurde die »Erneuerung des Hegelianismus«
durch Windelband369 in einer Akademierede von 1910. Ihre Formulierungen
können heute nur noch eine Art von Erstaunen erwecken
über die Verarmung des Geistes. Ohne eine ursprüngliche Beziehung
zu Hegel geschieht dessen offizielle Erneuerung auf dem Umweg über
einen selbst schon erneuerten Kant. »Wenn die Philosophie nach Kant
sich mit ihrer begrifflichen Arbeit auf die Entwicklung des Systems
der Vernunft richten mußte, so ist es in der Tat ein notwendiger
Fortschritt gewesen, der von Kant über Fichte und Schelling zu
Hegel führte, und die Wiederholung dieses Prozesses in dem Fortschritt
der neuesten Philosophie vom Neukantianismus zum Neuhegelianismus
ist nicht zufällig, sondern besitzt in sich eine sachliche Notwendigkeit.
« 370 Hegel erfahre nun, wie zuvor Kant, »im Wechsel
der Generationen den Wechsel der Anerkennung«! Dieser Fortschritt
im Rückgang auf Hegel bedeute, daß Kants Vernunftkritik eine
historische Grundlage verlange, seine Kritik der Naturwissenschaft
müsse ausgedehnt werden auf die der »Kulturwissenschaft«, nachdem
sich die letztere in den historischen Wissenschaften vom Geiste so
mächtig entfaltet habe. Um aber die ganze Fülle der historischen
Entwicklung der »Vernunftwerte« begrifflich durcharbeiten zu können,
bedürfe es der Hegelschen Philosophie, welche vorzüglich die
Prinzipien der geistigen Welt erhelle. »Es ist der Hunger nach Weltanschauung,
der unsere junge Generation ergriffen hat, und der bei
Hegel Sättigung sucht.« Die Frage aber, durch welche Wandlungen
der geistigen Lage diese Stimmung erzeugt worden ist, wird von
Windelband abgewiesen: »genug, sie ist da und sie entlädt sich mit
elementarer Gewalt!« Das junge Geschlecht sehne sich aus metaphy-
142
sischer Verödung zu »geistigen Lebensgründen« zurück, und diesem
Bedürfnis komme besonders Hegels universale Philosophie des geschichtlichen
Geistes, welche einen »Gesamtsinn der Wirklichkeit«
demonstriere, entgegen. Dazu komme noch der »entwicklungsfrohe
Optimismus« seiner Lehre, womit er über Schopenhauers Pessimismus
und Nietzsches schrankenlosen Individualismus obsiege. In diesem
Sinn bedeute der Rückgang auf Hegel einen Fortschritt, nur müsse
sich der Neuhegelianismus freihalten von den »wunderlichen Äußerlichkeiten
« und »metaphysischen Übereilungen«, des alten Hegelianismus;
man müsse die tote Schale abwerfen und den lebendigen Kern
festhalten. Der fruchtbare Kern, welcher bleibe, sei aber die Einsicht,
daß wir als eine »in der Entwicklung begriffene Gattung« Anteil
haben an der Weltvernunft. - Niemand kann heute noch übersehen,
daß dieses Programm nichts als Schale ist und daß seine Begriffe aus
Hegel geborgte Phrasen eines optimistischen Bürgertums sind, die
keineswegs eine »elementare« Macht des Geistes verraten.
Prinzipiell in derselben Weise, aber unter Hervorhebung des preußischen
Elements und des protestantischen Freiheitsbewußtseins der
Hegelschen Philosophie hat auch G. Lasson371 die Aufgabe des
Hegelianismus als eine Konsequenz des Kantianismus verstanden und
in seiner doppelten Eigenschaft als preußischer Hegelianer und Pastor
die verdienstvolle neue Bearbeitung der Hegelschen Werke in Angriff
genommen. Auf wie schwachen Füßen aber der Weg wiederholt
wurde, der von Kant zu Hegel führt, zeigt /. Ebbinghaus,312 der bald
nach seiner Parteinahme für den »absoluten« Idealismus von Hegel
wieder auf Kant zurückging, um schließlich bei Wolff zu landen.
Eine ernsthafte Durchführung von Windelbands Programm hat nur
R. Kroner geleistet, in seinem Werk »Von Kant bis Hegel« und in
einer an Hegel orientierten »Kulturphilosophie«.373 Kroner sagt:
»Hegel verstehen heißt einsehen, daß über ihn schlechterdings nicht
mehr hinausgegangen werden kann.« Daß er dennoch die Absicht
haben kann, Hegel für die Gegenwart zu erneuern, hat seinen Grund
in der Gleichsetzung der gegenwärtigen Aufgabe mit der von Hegel
bewältigten.374 Die Voraussetzungen des Philosophierens haben sich
zwar seitdem verändert, um aber dieser Umwälzung Herr zu werden,
bedürfe es der Wiederaneignung der klassischen Tradition, wie sie
Hegel in größter Fülle verkörpert. Vor allem habe er die Versöhnung
des weltlichen mit dem religiösen Bewußtsein erreicht, den Gegensatz
von Antike und Christentum überwunden und den griechischen mit
dem deutschen Geiste geeinigt.
143
Während des Krieges wurde Hegels dialektische Identität des Ideals
und der Wirklichkeit patriotisch vereinfacht: »deutscher Idealismus
und deutscher Wirklichkeitssinn« sollen sich (nach Lasson)375 in Hegels
Philosophie und im Weltkrieg als »wundervolle Einheit« überwältigend
offenbart haben - die Wirklichkeit und das Ideal sollen sich
(nach Kroner)378 im deutschen Staat »auf Schritt und Tritt« verfolgen
und begleiten. Als der eigentlich zeitgeschichtliche Sinn der
akademischen Erneuerung Hegels entpuppte sich in dieser Zeit der
philosophischen Feldausgaben die Selbstbehauptung des christlichgermanischen,
genauer des preußisch-protestantischen Selbstbewußtseins.
Hätte dieser Hegelianismus wirklich verstanden, daß sich - wie er
doch selber sagt — die Voraussetzungen unseres Lebens und Denkens
von Grund aus verändert haben und Hegels Welt nicht mehr die
unsere ist, hätte er Ernst gemacht mit seiner beiläufigen Einsicht, daß
Hegels Schicksal Feuerbach war,377 dann hätte er auch den scheinbaren
Widerspruch zwischen dem absoluten und dem geschichtlichen
Sinn der Hegelschen Philosophie als einen solchen erkennen müssen,
der nur deshalb zum Widerspruch wurde, weil wir nicht mehr an die
Absolutheit des Christentums und des in ihm begründeten Geistes
glauben. Nur unter dieser Voraussetzung läßt sich Hegels endgeschichtliche
Konstruktion aber als solche begreifen, wogegen die Idee
eines endlosen Fortschritts der Geistesgeschichte das christliche Zeitbewußtsein
auch noch in der von Hegel verweltlichten Form a priori
beseitigt.
Die eigentliche Inkonsequenz in Kroners Hegelianismus liegt deshalb
darin, daß er die Christlichkeit des Hegelschen Geistes bejaht, den
darin begründeten Abschluß der Geschichte des Geistes aber dennoch
verneint, weil er nicht wahrhaben will, daß Hegels Philosophie in der
Tat die Voll-endung des Prinzips des Christentums ist und daß seine
Vermittlung von Antike und Christentum kein »Erbgut« ist, sondern
schon vor einem Jahrhundert in Frage stand.
Um den Widerspruch zwischen »System« und »Geschichte«378 zu
lösen, interpretiert Kroner in Hegel einen hinein, der viel zu modern
ist, als daß er für Hegel bezeichnend sein könnte, nämlich den Widerspruch
von geschichtlicher Bedingtheit und unbedingter »Geltung«,
den Hegel mit einer »großartigen Unbekümmertheit« ertragen habe.
Er behaupte einerseits, jede Philosophie sei ihre Zeit in Gedanken
erfaßt, und andrerseits die ewige Absolutheit des Geistes. Die Einheit
beider Behauptungen versucht Kroner zunächst formal-dialektisch
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verständlich zu machen. Hegels überlegene Einsicht vereine beides,
weil ihm die Geschichte selber ein Werk des Geistes sei. »Die Geschichte
ist nicht bloß Geschichte, sie ist zugleich der fortzeugende
Geist der Menschheit, sie ist das Haus ..., in dem er ... beheimatet
ist, und an dem er fort und fort baut und umbaut.«379 In diesem
Sinne versteht Kroner seine Weiterarbeit an Hegel, und darum mißversteht
er das in ihm beschlossene Ende. Dabei bemerkt er selbst,
daß Hegel wie kein anderer rückschauend philosophierte, im Bewußtsein
um ein geschichtliches Fertigsein, und die Folgezeit scheine diese
Ansicht nur allzugut zu bestätigen.380 Anstatt nun aber von dieser
geschichtlichen Problematik aus den vermeintlichen Widerspruch von
System und Geschichte aufzuklären, stellt sich Kroner die Frage: mit
welchem Recht Hegel »trotz« dieser geschichtlichen Resignation für
sein System »absolute Geltung« beanspruchen konnte. Hegel habe
die Wahrheit seines Systems mit der Wahrheit an und für sich identisch
gesetzt und zugleich wie noch niemand vor ihm geschichtlich
gedacht, während andrerseits seine Geschichte der Philosophie zum
System gehört. Diesen Widerspruch habe er dadurch aufgelöst, daß er
den geschichtlichen Aspekt in einen systematischen verwandelte, um
der Gefahr des historischen Relativismus zu entgehen.
Der historische Relativismus ist aber ein sehr modernes Problem (und
schon nicht einmal mehr modern), das für Hegel überhaupt nicht bestand.
Seine eigentümliche Leistung ist nicht die Verwandlung des
geschichtlichen Aspekts in einen systematischen — diesen Versuch hat
erst Dilthey gemacht -, sondern umgekehrt: die Ineinssetzung des
systematischen mit dem geschichtlichen. Einen geschichtlichen Aspekt
von den Systemen der Philosophie, eine sog. Ideen- und Problemgeschichte,
gibt es nicht zufällig erst seit Hegel. Die Historisierung der
philosophischen Wahrheit ist aber bei ihm selber gleich weit entfernt
von Historismus wie Geltung. Der moderne Anspruch auf Geltung
»an sich« ist historisch aus der Philosophie vor Hegel abstammend
und ein Postulat des Neukantianismus. Und nur gegenüber einer
postulierten Wahrheit an sich verfällt auch ihre Geschichtlichkeit in
einen die Geltung relativierenden Historismus. Infolgedessen löst sich
der Gegensatz von System und Geschichte nicht so auf, wie Kroner
will, durch eine »übergeschichtliche« Geschichte und durch das formalistische
Argument, daß die These von der Geschichtlichkeit des
Geistes schon als solche übergeschichtlich sei, weil sie für alle Zeiten
»gelten« will. Wenn Hegel im Zeitlichen das Ewige erscheinen läßt,
so liegt dem keine formale Dialektik zugrunde, sondern eine gehalt-
145
volle Metaphysik des christlichen Logos. Seine Philosophie begreift in
der Tat, wie auch Kroner bemerkt,381 das christliche Bewußtsein vom
»Ende aller Dinge« in sich, weil Hegel überhaupt im Bewußtsein von
der absoluten Bedeutung des geschichtlichen Auftretens von Christus
denkt. Und deshalb war es ihm möglich, das »Ganze der Zeit« zu
umgreifen. Er lebte im »Tausendjährigen Reich«, worin »alle nostri
wiederversammelt werden«, »nämlich in der Wirklichkeit - denn in
Gedanken lebe ich bereits längst immer darin«.382 Nicht jede beliebige
Gegenwart war ihm daher »das Höchste«, sondern diejenige, die wie
die seine ein »letztes Glied« in der »heiligen Kette« des Gewesenen
und jetzt in seinem ganzen Umfang im Denken Erworbenen ist.
Nicht jede Gegenwart ist, wie bei Hegel, »Anfang und Ende zugleich«
und »eben deshalb Absolutheit«, sondern nur diejenige Zeit, die von
Thales bis Proclus und von dort bis zu Hegel reicht, macht es möglich,
nach dem Jetzt des »bis hierher« einen Schlußpunkt zu setzen. Zwar
sagt Hegel wörtlich, daß die Reihe der geistigen Gestaltungen »für
jetzt« mit seinem Werk beschlossen sei, das besagt aber nicht »lediglich
«, »daß seine Philosophie die bisher erreichte höchste Gestalt
ist«,383 so wie das jeder »überzeugte« Philosoph von seinem System
behaupten müsse, sondern die hier gemeinte Zeit ist die Zeit des
»von Zeit zu Zeit«,384 die Hegel nach Jahrtausenden zählt, so wie er
die Wahrheit der Systeme nach dem Maße ihrer Totalität bemißt.385
Nur alle heilige Zeit, aber nicht jederzeit, geschieht ein geistiger
»Ruck«, der das Ganze des bisher Gewesenen von Grund aus verändert.
Und darum bricht Hegels geschichtliches Denken auch keineswegs
ab, um in ein systematisches überzugehen, wohl aber geschieht
nach Hegel ein Umbruch im Geiste der Zeit und folglich auch im systematischen
Denken. Hegels Sätze von der bisherigen Geschichte des
Geistes haben also nicht den harmlosen Sinn, »daß die Gegenwart als
solche nicht Gegenstand historischer Betrachtung ist und sein kann«,388
sondern die »schlichte Wahrheit« solcher Sätze dürfte sein, daß Hegel
die Geschichte des Geistes im Wissen um ein Ende vollendet. Dann
wird es aber auch unnötig, ihn gegen den Vorwurf zu schützen, daß
er seine Gegenwart als das Ende der Geschichte begriff. Daß das
empirische Geschehen endlos weiter verläuft, verstand sich für Hegel
von selbst. Die Geschichte des Begriffs ist dagegen in der Tat mit ihm
beschlossen gewesen. Und so hat Hegel nicht trotz seiner geschichtlichen
Resignation dennoch für sein System absolute Geltung beansprucht,
sondern infolge seines geschichtlichen Wissens konnte er auch
in einem ausgezeichneten Sinn so systematisch sein wie niemand vor
146
ihm und nach ihm. In seinem Zusammenschluß der ganzen bisherigen
Geistesgeschichte liegt der Ton nicht auf dem von Kroner betonten
»bisher«, als sei damit nichts gesagt über die Zukunft, sondern betont
ist das Ganze »bis hierher ist nun«, nämlich »endlich«, der Weltgeist
gekommen, und dieses Ganze ist ein zielvolles Resultat. Was künftig
daraus hervorgehen könnte, ließ Hegel zwar offen, aber nicht, weil
sich die Gegenwart nicht schon historisch betrachten ließe, sondern
weil jetzt drei Epochen zum Abschluß kamen, hat Hegel die Geschichte
begrifflich beschlossen. Wenn irgendwer, dann hatte gerade er schon
zur Gegenwart ein historisches Verhältnis von der erinnerten Vergangenheit
her. Seine nächsten Nachfolger philosophierten darum
nicht zufällig in eine antizipierte Zukunft hinein und betrachteten
von dort aus ihre eigene Zeit als »historisch« im umgekehrten Sinne
des Wortes. Während Hegel vergegenwärtigte, was bis dahin gewesen
ist und zustande kam, hat die Kritik des Bestehenden durch die
Junghegelianer in entgegengesetzter Richtung vergegenwärtigt, was
die bevorstehende Aufgabe war. Dagegen vermag der Neuhegelianismus
weder die Vergangenheit noch die Zukunft zur Sprache zu bringen,
weil er die geschichtliche Bedeutung des Bruchs mit Hegel ver--
kennt und nicht anerkennt, daß unsere »Geistesgeschichte« mit dem
Zerfall des Hegelschen Geistes beginnt.
Den vermeintlichen Widerspruch zwischen dem absoluten und zeitlichen
Sinn von Hegels System hat auch Scholz zu erklären versucht.
387 Für die formale Betrachtung bleibe er zwar eine Inkonsequenz,
die sich nicht restlos beseitigen lasse, man könne aber den absoluten
Anspruch daraus erklären, daß Hegel in dem Bewußtsein lebte,
das Absolute zum erstenmal so gefaßt zu haben, wie man es fassen
muß, wenn es sich in der Wirklichkeit als wirksam erweisen soll,
nämlich als »sich selbst beständig relativierend«. Die Absolutheit seines
Systems würde dann in einem absoluten Relativismus bestehen,
weil Hegel — im Gegensatz zu Kant — das Absolute als einen der
Wirklichkeit immanenten und jeweils gegenwärtigen Geist zur Darstellung
bringt.388
Im Bereich der Naturphilosophie hält Scholz diesen Versuch für restlos
mißlungen, in dem des geschichtlichen Geistes aber für teilweise gelungen,
wenn man nämlich den Erweis der Sinnhaftigkeit alles Geschehens
als hypothetisches Verfahren auslegt, zur Bewältigung der
Schwierigkeiten, die dem Glauben an den Sinn der Geschichte - auch
in Hegels eigenem Bewußtsein - entgegenstehen. In jedem Falle habe
aber die grundsätzliche Würdigung von Hegels Bedeutung für die
147
Gegenwart davon auszugehen, daß sich die Philosophie erst durch ihn
als der Gedanke der Zeit weiß, und diese These betreffe das ganze
Verhältnis der Philosophie zur geschichtlichen Wirklichkeit unseres
Lebens. Diese Verbindung des temporären Charakters der Philosophie
mit ihrem substanziellen Gehalt verbürge die dauernde Bedeutung
von Hegel. Daß jede Philosophie das Selbstbewußtsein ihres Zeitalters
ist, bedeute aber nicht, daß sie ein bloßer Spiegel der Zeit sei,
sondern daß jedes Geschlecht die Aufgabe der Philosophie mit neuer
Kraft und auf eigene Weise bewältigen müsse, gerade weil es keine
»philosophia perennis« in irgendeinem äußerlichen Sinn von Ewigkeit
gebe. Dem temporären Charakter der Philosophie entspreche positiv
ihre beständige Verjüngung. Die Tragweite dieses Gedankens sei erst zu
ermessen, wenn man sich erinnert, wie es zuvor gewesen ist. »Vor Hegel
hat kein großer Denker gewagt, die Philosophie so beherzt in den
Strom des Lebens hineinzustellen. Sie haben alle am Ufer gestanden
und es für ihre Aufgabe gehalten, eine Brücke über ihn für die Ewigkeit
zu bauen. Die Wenigen, die anders geurteilt haben, sind keine
großen Denker gewesen, sondern Skeptiker oder Relativisten. Das
eigentümlich Große an Hegel ist dies, daß er mit dem Eleatismus gebrochen
hat, ohne den Skeptizismus und Relativismus im definitiven
Sinne des Wortes auch nur mit der Spitze seines Fingers zu berühren.
Das Schicksal hatte ihn so günstig gestellt, daß auch nicht der Schimmer
eines solchen seine Erscheinung getroffen hat. Sein Geist war so
restlos im Absoluten verankert, daß sein eigentümlicher Relativismus
lediglich aus seinem großen Absolutheitsbewußtsein entsprungen
ist.« 389 Die Philosophie wird damit zu einem ewig-lebendigen Tun,
das eine Auffrischung vergangener Systeme ausschließt. Der Philosoph,
der diesem temporären Charakter genügen soll, muß der ausdauerndste
und reichste Geist der Zeit sein und ein Mensch der sichersten
Unterscheidungskraft, um das Gehaltvolle vom Nichtigen und das
Zukunftsvolle vom bloß Aktuellen scheiden zu können. Weil Hegel
mit dem größten Überblick auch die tiefste Kritik verband, gewann er
als erster nach Aristoteles und Leibniz eine Stellung zur Geschichte,
welche der Philosophie nicht äußerlich bleibt. Indem man das Gewesene
als das Fortwirkende begreift, wird die Philosophie zum Bewußtsein
der Zeit und die historische Kontinuität zum Prinzip des geschichtlichen
Fortgangs - bei Hegel zu einer Übersteigerung, die wir
nicht mehr mitmachen können, weil eine absolute Kontinuität dem
temporären Charakter der Philosophie widerstreitet. Entscheidend
bleibt aber die Erfassung der Geschichtlichkeit des Geistes als solchen,
148
dessen Begriff erst Hegel in eigentümlich deutscher Weise ausgeprägt
hat.
Daß Hegels Philosophie der Geschichte, im Unterschied zu Vico und
Herder, keinen Augenblick an die Zukunft denkt, wird von Scholz als
bloßer Verzicht auf romantische Spekulation und als »Wirklichkeitssinn
« ausgelegt. Während die ursprünglichen Hegelianer als den problematischen
Grund der Geschlossenheit von Hegels System seine
endgeschichtliche Konzeption verstanden, legt Scholz in die Zeitlichkeit
der Hegelschen Philosophie das Motiv einer unabsehbaren Selbstverjüngung
hinein, das aus Hegel selbst nicht erweisbar ist; dachte er
doch im »Greisenalter« des Geistes, das der vollen Reife des in sich
selbst zurückgegangenen Geistes entspricht. Es ist aber eine für die
Beurteilung von Hegels Bedeutung entscheidende Frage, ob nicht gerade
diese Grenze seines geschichtlichen Sinnes durch die Geschichte
des deutschen Geistes nach ihm vollauf gerechtfertigt wird. Dann
würde die eigentliche Bedeutung seiner Metaphysik des geschichtlichen
Geistes für die Gegenwart aber darin bestehen, daß sie die Epoche
der »germanischen« Philosophie als einer »christlichen« abschloß.
Das scharfe Bewußtsein der epochalen Grenze, die uns von Hegel
trennt, hat /. Plenge veranlaßt, das Problem von Hegels Stellung zur
Weltgeschichte neu zu stellen und Marx in das Hegelstudium einzubeziehen.
390 Seine Abhandlung hat wieder den Horizont für die
Fragen eröffnet, welche die Junghegelianer, Bauer besonders, schon
vor einem Jahrhundert gestellt haben. Sie beginnt mit der Feststellung,
daß es die am wenigsten Hegels würdige Weise wäre, wenn
man mit philosophischer Kenntnis nur wiederholen wollte, was er
selber schon besser gesagt hat. Dies wäre gerade in seinen Augen der
Tod des Geistes, dessen Lebendigkeit in der Bewältigung neuer Entzweiungen
liegt. »Er würde uns fragen, kam nicht nach mir von außen
und innen der neue Gegensatz? Formal als die Erfahrungswissenschafl
des in Fächer zersplitterten Scientismus. Material als der aus
meiner eigenen Schule herausgewachsene, von meiner Dialektik genährte
und zum unaufhaltsamen Schicksalsgang des gesellschaftlichen
Erlebens gesteigerte Sozialismus von Karl Marx. Seid ihr, die ihr zu
mir als dem Träger einer siegreichen universalen Bejahung zurückwollt,
zu schwach, um mich auch über diese Gegensätze zu erreichen,
statt vor ihnen stehen zu bleiben, als ob meine Zeit noch älter und
fertiger gewesen wäre, als ich selber sie damals konstruieren wollte.
«891 Hegel und Marx haben beide die fundamentale Geschichtlichkeit
alles menschlichen Lebens erkannt, und wir haben die Aufgabe, uns
149
ihre Absichten anzueignen, ohne dem einen oder dem andern kritiklos
anzuhängen.892
Die Art, wie Hegel und auch noch Marx das System unserer Welt ansahen,
war begrenzt, weil erst im 19. Jahrhundert jener »Ausbruch
der Energien« einsetzte, dessen vorerst letzte Erscheinung der Weltkrieg
und die aus ihm hervorgegangenen Umwälzungen sind, die
Hegel überhaupt nicht und Marx nur in der Begrenzung auf den
Kapitalismus voraussehen konnte. Die Erfindungen des 19. Jahrhunderts
und die durch sie ermöglichte Organisation des wirtschaftlichen,
sozialen und militärischen Wesens haben zum erstenmal eine »Welt«
eröffnet, die nun in der Tat alle geschichtlichen Völker der Erde umspannt.
Im Hinblick auf diese neu entstandene Welt versucht Plenge
die bisherige Geschichte Europas neu einzuteilen und Hegels geschichtlichen
Ort vom Standpunkt der Gegenwart aus zu bestimmen.
Das christliche Mittelalter, die sog. Neuzeit und das 19. Jahrhundert,
mit dem gleichfalls eine neue Epoche beginnt, sind die drei Unterperioden
eines Geschichtsablaufs vor dem neu aufgehenden »Weltsystem
«, das mit dem Weltkrieg beginnt, wogegen Hegels Abschluß
der Weltgeschichte mit der christlich-germanischen Welt noch mit
einem Europa rechnete, das weder die welthistorische Bedeutung von
Amerika und Rußland, noch die neue Auseinandersetzung mit dem
Osten kannte. »Zwischen uns und Hegel liegt eine Geschichtsperiode,
für die uns der allgemein anerkannte, wirklich bezeichnende Name
fehlt. Das >Zeitalter des Kapitalismus< geht nur auf die ... weitertreibende
Wirtschaftsreform ..., >Bürgerliche Gesellscbafi< klingt ohne
den mit dem Wort >Bürger< so sachwidrig verbundenen ... Nebensinn
eigentlich zu gemütlich für ein so explosives Geschehen, und die
Mißverständnisse für die Zukunft sind leicht noch gefährlicher, weil
eine sozialistische Arbeitsarmee doch mindestens soviel Ordnung
brauchen würde wie das Bürgertum. Man kann sich damit helfen ...,
daß man die bekannte Wendung Goldbergers um die Jahrhundertwende
von Amerika ... auf das eigentliche 19. Jahrhundert erweitert:
>das Jahrhundert der unbegrenzten Möglichkeiten! Das Ausgreifen
der Menschheit zu immer höher gesteigerten technischen Leistungen
und der Taumel des persönlichen Erfolgs für die glücklichen
Ausnutzer und Gewinner in dieser Aufstiegskonjunktur wird damit
treffend bezeichnet. Aber die dämonische Gewalt des über alles geschichtlich
Dagewesene hinausgehenden Entfaltungsprozesses wird
wohl am besten als >Ausbruch der Energien< gekennzeichnet. Alle
Kräfte der Erde werden erschlossen und die Auswirkungen dieser
150
Erschließung überwältigen die Menschheit und reißen unsere Gesellschaft
in die unabsehbare, von keiner Einsicht und von keinem Willen
gemeisterte Veränderung hinein, die ... schließlich, soweit es Schuld
ist, aus gemeinsamer Schuld in Weltkrieg und Weltrevolution endet.
Dabei erweitert sich durch die Ergebnisse der Forschung das Wirklichkeitsbild
in unermeßliche und doch berechnete kosmische Fernen ...,
sodaß das ewige Gleichgewicht unabänderlicher Gesetze überall verloren
geht ... Auch >Entwicklung< wird fessellos ausgebrochene Energie,
die über uns hinweggeht. Und wie die Menschengesellschaft aus
allen geordneten oder als Ordnung hingenommenen Gesamtregelungen
ihrer Verhältnisse hinausgerissen wird, geht die geschlossene Übersicht
über die Gesamtwirklichkeit verloren. Man hat keine Weltanschauung
mehr. Man hat Wissenschaften! Fachwissenschaften ohne
zusammenhängende Ordnung ihres Gesamtsystems ... Dahinter steht
nur der strenge Glaube an die Wissenschaft als Methode, die mit ihrer
Sicherheit auch die letzten Dinge erreicht, und damit die Tendenz,
dieses Letzte als voraussetzungslose Kraft zu fassen, die der Mensch in
seiner Gesellschaftsversorgung zwar benutzt, aber deren Produkt er
auch ist. Materie ... als Energie! Schon Friedrich List und Karl Marx
sind beide gleich kraftgläubig. Das ist die Welt des eigentlichen
19. Jahrhunderts, die Hegel mit keinem Gedanken geahnt hat, obwohl
sie schon unter seinen Augen im Entstehen war.«393
Die Überwindung von Zeit und Raum durch die Technifikation der
Welt drängt — quer durch die Kämpfe der Rassen und Völker, Nationen
und Klassen hindurch — auf allen Gebieten zu einem bewußt
organisierten System der Welt und zu einer »Weltorganisationsgeschichte
«, obschon man nicht wissen kann, ob dieser babylonische
Turmbau mit seiner Sprachverwirrung zu einer dauerhaften Schöpfung
geführt werden kann. Hegel dagegen wollte das Absolute inmitten
des damaligen Weltbestandes vollständig explizieren. Seine
Anschauung der Welt war trotz der Weite und Sicherheit seines Blicks
noch ganz auf den christlich-humanistischen Geschichtskörper beschränkt,
obwohl schon zu seinen Lebzeiten die Geschichtsschreibung
anfing, ihr überliefertes Bild zu revidieren und es durch die neu erschlossenen
Geschichtsquellen des Ostens zu sprengen.394Diese Beschränkung
auf einen mittleren Ausschnitt der innereuropäischen Welt
hat aber noch einen tieferen Grund in Hegels philosophischer Position,
nämlich in seiner Idee vom Staat und von der Religion. Hegel, für
den die Französische Revolution das große Ereignis war, hat die aus
ihr entsprungenen Möglichkeiten geflissentlich übersehen, obwohl
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schon zu seiner Zeit spürbar sein konnte, daß das Zeitalter der Revolutionen
erst anfing. »Er ahnte nichts von den verwirrenden Einflüssen,
die aus aller Welt über Europa kommen sollten. Das liegt an
seiner Methode selbst, denn was die Dialektik einmal hinter sich gebracht
hat, lebt zwar als aufgehobenes Moment unter der Hand in ihr
weiter, aber kommt nicht aus eigenem Recht zu wesentlich neuer
Wirkung.« Der letzte Grund für diese Abgeschlossenheit seines Systems
liegt in Hegels Stellung zum Christentum. »Christus ist für
Hegel der Revolutionär der Synthese, der die auf der Spitze ihrer
äußersten Entgegensetzungen stehende Welt für ihr Denken ein für
allemal zusammenbringt. Hegel sah Christus ohne Ehrfurcht und
Rührung . .. mit tiefhineinversenkter wissenschaftlicher Spannung als
das Problem der Probleme, weil in ihm das Unendliche endlich wird,
weil er als >ein dieser<, in seinem ganz lebendigen Vorübergang, das
All in sich schließt und die wesentliche Gottverbundenheit des Menschen
endgültig zeigt.«305 Zugleich verliert in diesem logischen Begriffsgang
das christliche Kreuz jede ursprüngliche, menschliche Macht,
denn eigentlich genügt schon der protestantische Staat für die Zwecke
der Geschichte der Hegeischen Welt. Auf Grund dieser totalen Vergeistigung
und Verweltlichung der christlichen Überwelt verliert der
Übergang aus der Periode des eigentlichen Christentums in der Neuzeit
bei Hegel seine entscheidende Bedeutung und damit die Neuzeit
die Wucht des geschichtlichen Fortgangs, der sie in dem stürmischen
Gang des 19. Jahrhunderts schließlich zum ersten Weltkrieg treibt.
Die Neuzeit wird einfach zum sich wissenden und erfüllenden Christentum.
»Hegel übersieht die Umgestaltung des Wirklichkeitsbildes
zu einer ganz neuen Dimensionsstufe und die beginnende Vereinigung
aller Kulturen der Erde zu einem einzigen Handlungsfeld, die die
Periode der Neuzeit, so sehr sie Unterperiode im Gesamtablauf des
Aufstiegs von Welteuropa bleibt, gegen alle menschliche Vergangenheit
und damit gegen den Beginn der welteuropäischen Periode mit
dem Zeitalter der >Christenheit< schicksalsvoll abhebt. Dabei bleibt
natürlich bestehen, daß das Weltüberlegenheitsbewußtsein der hohen
Neuzeit auf dem gottunterworfenen Weltüberlegenheitsbewußtsein
des Christentums aufbaut und sich dann zum technischen Weltüberlegenheitstaumel
des dem eigenen Werk versklavten 19. Jahrhunderts
steigert!« 396 Im Gegensatz zu der Forderung seiner Methode endet
Hegels Geschichtskonstruktion auch nur dem Schein nach mit einer
höchsten Versöhnung und Organisation der durchlebten Gegensätze.
In Wirklichkeit schließt sie politisch mit einer radikalen Entzweiung
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von sich bekämpfenden Nationalstaaten und religiös mit dem in
Sekten zersplitterten Protestantismus, der schon als solcher ein unversöhnlicher
Gegner des Katholizismus bleibt.
Die trotz dieser Schranken großartige Leistung Hegels für das Verständnis
der Weltgeschichte ist im 19. Jahrhundert nur durch Marx
und F. List korrigiert worden, die beide im Gegensatz zu den bürgerlichen
Historikern ihre Voraussicht der Weltbedeutung der technischen
und ökonomisch-sozialen Entwicklungen in raschem Zugriff zu gestalten
versuchten. »List, der, ohne viel nach Hegel zu fragen, den
Nationalstaat als Geschichtsträger sah und ihm die wirtschaftlichen
Waffen gab, um die Gleichberechtigung neben den andern zu sichern,
auf der das Weltsystem erwachsen sollte. Marx, der geistige Erbe
Hegels, der geradeso wie List Wirtschaft und Technik als eigentliche
Arbeitsaufgabe und Daseinsfundament der Menschheit erfaßt, aber
gerade darum auch als den Wachsboden der Klassenspannung und der
Klassenkämpfe, die für ihn der immer wiederholte Durchgangsgegensatz
bis zum endlichen Weltsystem der Arbeit wurden. Wir nehmen
beide nur als Ausdruck, wie die Tatsachen der Zeit Hegels Konstruktionen
beiseite schoben und dem Denken einfachere Wege zeigten.
Gleichzeitig als Antwortversuche auf Fragen, die Hegel falsch oder
gar nicht beantwortet, ja nicht gesehen hatte. Unvollkommene Antworten,
denen in ihrer Einseitigkeit die Weite fehlt, nach der Hegel
verlangte.« 397 Und es bliebe zu fragen, ob die Grundbegriffe von
Hegels Geschichtsphilosophie auf die Gestaltungen der beginnenden
Weltperiode anwendbar sind, also z. B. auf die Auseinandersetzung
der verschiedenen Kulturen und der darüber hinweggehenden Uniformierungsprozesse.
398 Gewiß sei dagegen, daß nur ein durch Marx
berichtigter Hegel die Geschichte des 19. Jahrhunderts wahrhaft erkennen
läßt. »Man kann vor allem, mit richtiger Fassung der von
Marx entdeckten Grundwahrheit, in der Inzwecknahme und Unterwerfung
aller Kräfte der Erde und in der Rückwirkung der dabei aus
dem Zweck heraus geschaffenen Arbeitsmittel, des Instrumentals, auf
den Gesellschaftskörper eine allerstärkste Auswirkung einer vorläufig
nur in den nächsten Werkverrichtungen hellsichtigen Schaffenskraft
unseres Menschengeistes sehen ... Aber das sind überall andere Wege,
als Hegel sie ging.« 398
Im Unterschied zu dieser soziologischen Aneignung Hegels, deren
eigenwillige Formulierungen nur oberflächliche Leser abschrecken können,
hat der akademische Neuhegelianismus des 20. Jahrhunderts als
ein abgeleitetes Bildungsprodukt vor den geschichtlichen Einsichten
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von Marx und Sorel die Augen verschlossen und das philosophische
Problem des 19. Jahrhunderts verkannt. Der sog. Marxismus ist der
deutschen Intelligenz erst durch die politische Propaganda des Nationalsozialismus
und in dessen polemischer Aufmachung bekannt geworden.
Während in Deutschland der ursprüngliche Hegelianismus vergessen
wurde und die Erneuerung Hegels durch den Neukantianismus geschah,
hat in Rußland der Hegelianismus der 40er Jahre im Nihilismus,
Marxismus und Leninismus bis in die Gegenwart in einer nie
unterbrochenen Folge weitergewirkt und Geschichte gemacht. Als 1931
zu Hegels 100. Todestag Kongresse stattfanden, gab es einen in
Moskau und zwei andere in Rom und Berlin, die trotz ihrer gegenseitigen
Ablehnung doch so zusammengehörten wie schon ein Jahrhundert
zuvor die Hegeische Linke und Rechte. Die feinere Bildung
war, wie damals, auf Seite der Epigonen, die geschichtliche Macht bei
denen, welche den Fortschritt wollten und Hegel durch Marx auslegten.
In einem aber waren sich die idealistische und die materialistische
Dialektik beider Parteien einig: in der Meinung, das »Tote«
und das »Lebendige« in Hegels Philosophie des tätigen Geistes durch
eine einfache Operation voneinander scheiden zu können und entweder
den geistigen »Gehalt« oder die dialektische »Methode« isoliert
zu verwenden.400 Die eigentliche Entscheidung gegenüber Hegels Vermittlungen
war aber schon durch Marx und Kierkegaard in entgegengesetzter
Richtung vollzogen worden. Daß diese beiden entschiedensten
und einander widerstrebendsten Kritiker Hegels im Banne seiner
Begriffe standen, zeigt die Macht des Geistes, der solche Extreme
hervortreiben konnte.
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