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Eine theologische Reaktion: al-Ghazâlî

Publié le 06/01/2010

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Mit Avicennas Entwurf war ein neuer Diskussionsstand erreicht und eine andere Grundlage für künftige Überlegungen gewonnen. Hatte Fârâbî die religiösen Fragen als partikular eingestuft und deswegen weitgehend aus der Philosophie ausgeklammert (vgl. oben S. 31-33); hatten die Theologen seiner Zeit umgekehrt darauf bestanden, dass das rationale Denken der religiösen Überlieferung unterzuordnen sei (vgl. S. 22 mit dem Verweis auf al-Asch arî und al-Mâturîdî), so legte Avicenna jetzt ein Konzept vor, das als Synthese oder zumindest als ein Angebot zur Integration verstanden werden konnte, weil es die Autonomie der Philosophie beibehielt und gleichzeitig wichtige Themenfelder aus der Theologie aufnahm. Das entsprach an sich den Erwartungen, die man an die Philosophie richten konnte. Auf diese Weise wurde sie nämlich für Fragen geöffnet, die sich den Muslimen neu stellten, und blieb nicht auf Problemhorizonte, die schon aus den antiken Texten überliefert waren, beschränkt. Gleichwohl entzündete sich an Avicennas Vorgehen heftige Kritik. Denn sein Versuch, der Philosophie eine umfassende Kompetenz zuzusprechen, irritierte all jene, die an den herkömmlichen Zuständigkeiten festhielten und sich ausschließlich einer einzelnen Disziplin verpflichtet fühlten. Deswegen ist es auch nicht verwunderlich, dass von den Vertretern dieser Disziplinen jeweils Attacken gegen Avicennas Konzept ausgingen. Den Anfang machten die Theologen, deren Kritik noch im II. Jahrhundert formuliert wurde. Ihr Wortführer war Abû Hamid al-Ghazâlî (gest. im), der zu den herausragenden religiösen Gelehrten seiner Epoche, wenn nicht der gesamten islamischen Geistesgeschichte zählt. Sein Wirken war ausgesprochen vielseitig, denn Ghazâlî verband eine unermüdliche Produktivität mit einem unsteten, teilweise dramatisch anmutenden Leben. Ersteres dokumentiert sich in seinem breiten OEuvre (Theologie, Recht, Sufismus, Paränese, Polemik usw.). Das zweite wird daran deutlich, dass bei ihm Zeiten des öffentlichen Wirkens und Phasen der völligen Zurückgezogenheit abrupt wechselten. Deshalb sah er sich schließlich sogar gezwungen, seinen Lebensweg in einer autobiographischen Schrift (dem berühmten Erretter aus dem Irrtum) zu rechtfertigen. All das hat die moderne Forschung schon lange beschäftigt. Dabei wurde zurecht betont, dass in Ghazâlîs Werdegang nicht nur das persönliche Ringen eines Gelehrten, sondern auch die intellektuelle Krise eines Zeitalters zum Ausdruck kamen. Diese Krise hatte verschiedene Gründe, aber die Herausforderung, die von der Philosophie ausging, zählte ohne Zweifel zu den auffälligsten unter ihnen. Sie hatte durch Avicenna eine neue Dimension angenommen, so dass sich Ghazâlî vor eine ausgesprochen ernste Aufgabe gestellt sah. Wie sehr ihn das Problem beschäftigte, zeigt schon die Tatsache, dass er sich nirgends zu einer abschließenden und umfassenden Stellungnahme durchringen konnte. Ghazâlî versucht nämlich gar nicht, die Philosophie als ganze, in sich geschlossene Wissenschaft zu beurteilen. Stattdessen plädiert er dafür, sie in verschiedene Segmente zu unterteilen und diese Segmente dann unterschiedlich zu bewerten. Einer der Teile, die er dabei ins Auge fasst, besteht aus der Mathematik und der Logik. Sie werden von ihm ausdrücklich gelobt und ohne Einschränkung geschätzt. Denn Ghazâlî meint nicht nur, dass die Philosophen in diesen Bereichen klare Reflexionen und unwiderlegbare Argumente vortrügen, sondern fordert sogar die religiösen Gelehrten auf, es ihnen gleichzutun. Das gilt speziell für die Logik (d. h. das Organon) und innerhalb der Logik wieder für die Beweislehre (d. h. die Zweiten Analytiken). Sie sind für Ghazâlî die Grundlage, auf der jede wissenschaftliche Argumentation aufbauen muss. Deswegen verfasst er selbst zwei Handbücher, Die Richtschnur der Erkenntnis und Der Prüfstein des Denkens, um seine Kollegen in der aristotelischen Logik zu unterweisen. Damit will er erreichen, dass die Theologie (und die Jurisprudenz), methodisch gesehen, auf ein neues Fundament gestellt werden. Sie sollen nicht mehr auf die Anwendung dialektischer Schlüsse beschränkt bleiben – wie es Fârâbî mokant, aber mit einer gewissen Berechtigung unterstellt hatte (vgl. oben S. 31)–, sondern demonstrative Wissenschaften werden, die mit einem umfassenden Beweisanspruch auftreten können.

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